Eine Analyse der Nützlichkeit von Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ am Beispiel von Peoples Temple
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Einleitung
Department of State, Washington D.C., telephonically advised the writer that he had “flash” information from the American embassy in the African country [South American country] of Guyana’ (Federal Bureau of Investigation, 1978). Diese Aussage, bei der das FBI offenbar geographische Kreativität bewies, ist eine der ersten Informationen, auf die man stößt, wenn man zu den Themen „Jonestown“, „Peoples Temple“ und „Jim Jones“ recherchiert. Abgesehen von der Frage, wie es zu diesem Missgeschick kommen konnte, markiert sie den Beginn des öffentlichen Diskurses über eines der unfassbarsten Ereignisse der modernen Geschichte: den Massensuizid[1] in Jonestown, Guyana, Südamerika, 1978. Bei diesem Ereignis verloren über 900 Menschen ihr Leben. Dieser Vorfall wirft bis heute zahlreiche Fragen über Gruppendynamiken, menschliche Manipulierbarkeit und das Phänomen der charismatischen Führer auf.
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Theorie der „Psychologie der Masse“ von Gustave Le Bon: Lässt sich ein komplexes Ereignis wie das von Jonestown tatsächlich durch das Model der Massenpsychologie erklären? Welche Elemente passen zu Le Bons Theorien und wie zeigen sich Widersprüche und Grenzen auf?
Aufbau der Arbeit verläuft wie folgt: Zunächst wird Gustave Le Bon und seine Theorie vorgestellt und erläutert. Dabei wird vor allem auf seine Definition der Massen, Merkmale eines Führers und Mechanismen der Massenbeeinflussung eingegangen. Außerdem werden kritische Stimmen vorgestellt. Im Anschluss wird eine ausführliche Beschreibung des People Temples, seiner Entwicklung, so wie Jim Jones und seine Rolle als Führer der Gruppe dargelegt. All diese Punkte werden auf die Vereinbarkeit mit Le Bon geprüft. Ziel der Arbeit ist es ein vertieftes Verständnis der Dynamik und des tragischen Endes von dieser religiösen Bewegung zu erlangen.
Gustave Le Bon: Die Grundlagen der Massenpsychologie
Gustave Le Bon lebte von 1841 bis 1931 in Frankreich und war damit Zeuge von großen Ereignissen wie der Februarrevolution 1849, der Pariser Kommune 1871 und dem ersten Weltkrieg (1914-1918). Er war Doktor der Medizin und Militärarzt, ab 1881 befasste er sich vor allem mit Völkerstudien sowie den Phänomenen Gruppen und Massen. Diesem Thema ist auch sein Hauptwerk „Psychologie der Massen“ (1894) gewidmet, welches als Basis dieser Arbeit fungiert (Le Bon, 2009).
1.1 Definition der Massen nach Le Bon
Le Bon (2009) beschreibt eine Masse im psychologischen Sinne als eine Gruppe von Individuen, welche durch den Druck gewisser Einflüsse zu einem Kollektiv werden. Im Gegensatz dazu steht eine zufällige Ansammlung von Menschen, welche „ohne einen bestimmten Zweck“ (Le Bon, 2009, S. 30) auf einander treffen und abgesehen vom Ort keine Gemeinsamkeiten besitzen. Le Bon geht noch weiter und führt aus, dass Menschen in psychologischen Massen ihre bewusste Persönlichkeit abgeben, dadurch eine „Gemeinschaftsseele“ bilden und durch das „Gesetz der seelischen Einheit der Massen“ (Le Bon, 2009, S. 29) gesteuert werden. Er unterscheidet zwischen „heterogenen Massen“ und „homogenen Massen“, zu denen z.B. Menschen eines Glaubens, Herkunft oder sozialen Schicht gehören.
Somit besitzen Personen innerhalb einer Masse nach Le Bon keine eigene Individualität mehr. Ihre gesamten Gedanken und Gefühle zielen; in ein und dieselbe Richtung, ihre Emotionen, Handlungen und Gedanken gleichen sich an. Auch Aspekte wie Moral oder Intelligenz werden von der Masse beschränkt, wodurch diese keine sinnvollen Entscheidungen treffen können, da „die Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften“ (Le Bon, 2009, S. 35) dazu führt, dass alle Entscheidungen zum Wohle des allgemeinen Interesses getroffen werden und so die Mittelmäßigkeit über dem Sinnvollen steht. Dies begründet Le Bon damit, dass in einer Masse das „bewusste Geistesleben“, sprich die aktiv getroffenen Entscheidungen, in einem Menschen nur einen sehr kleinen Teil der Handlungen beeinflusst. Viel wichtiger ist das „unbewusste Seelenleben“, welches Urinstinkte und primitive Triebe enthält. „In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeiten der Einzelnen. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen“ (Le Bon, 2009, S. 34). Kurz gesagt: eine Masse ist keinen Deut besser als eine „Versammlung von Dummköpfen“ (Le Bon, 2009, S. 35).
1.2 Merkmale eines Führers
„Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist, […] unterstellen sie sich unwillkürlich einem Oberhaupt, d.h. einem Führer“ (Le Bon, 2009, S. 111). Le Bon vergleicht dies mit einer Herde ohne Hirten. Le Bon beschreibt, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Schicht, keine klaren Vorstellungen besitzen. Er zieht daraus den Schluss, dass kein Mensch in der Lage sei sich selbst zu leiten und sich somit jeder immer an einem Führer orientieren wird. Der Führer an sich ist kein Denker, sondern ein Macher, denn Denken würde bedeuten Risiken und Misserfolge mit abwägen zu müssen, während reines Handeln nur Erfolg erwarten lässt. Dieses Selbstbewusstsein geht selbst über ihren Selbsterhaltungstrieb hinaus und treibt die meisten, nach der Aufopferung von Familie und Persönlichkeit, ins Märtyrertum (Le Bon, 2009).
Warum eine Masse auf einen solchen Führer hört und welche Persönlichkeitseigenschaften diese Person auszeichnen hat mehrere psychologischen Erklärungsversuche. Eine von ihnen ist die Theorie des Charismas. Die charismatische Herrschaft ist ein Begriff von Max Weber und beschreibt die Herrschaft einer Person durch besondere Charaktereigenschaften, wodurch die Geführten eine emotionale und ideelle Verbindung und Identifikation zur Führerperson aufbauen (Hentze et al., 2005). Le Bon (2009) beschreibt dieses Phänomen als Nimbus: „Eine große Macht verleiht den Ideen, die durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung verbreitet wurden, zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt, die Nimbus heißt“ (Le Bon, 2009, S. 122). Er unterscheidet zwischen „erworbenem“ Nimbus und „persönlichem“ Nimbus. Erworbener Nimbus meint Ansehen und Prestige, welche künstlich, z.B. durch Geld, Erfolg oder eine Uniform, entsteht. Dieser ist nicht absolut und kann unter anderem durch Statusänderung verloren gehen. Persönlicher Nimbus hingegen ist unabhängig vom Standing einer Person, eine Art „Aura“ die ihn umgibt und „einen wahrhaft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung“ (Le Bon, 2009, S. 124 f.) und Mitmenschen ausübt. Hierunter fallen Menschen wie Buddha, Jesus Christus, Jeanne d’Arc, Muhammad und Napoleon Bonaparte. Um diese Charaktere ranken sich Mythen und Sagen die einer Heldengeschichte gleichen. Doch auch der persönliche Nimbus kann durch Misserfolg und Missetaten verloren gehen. Sobald Menschen über den Nimbus einer Person uneinig sind sprechen wir von einem „diskutierte[n] Nimbus“ (Le Bon, 2009, S. 131). Durch diesen Zweifel verliert der Nimbus seinen Effekt und die Person jegliche Autorität.
1.3 Mechanismen der Massenbeeinflussung
Je nachdem, welches Ziel verfolgt wird, muss der Führer andere Strategien wählen. Handelt es sich um eine kurzfristige Aktion, reicht es meist aus, dass er den ersten Schritt macht und als Vorbild agiert. Viel wichtiger ist es aber nach Le Bon (2009), einen langfristigen Gedanken, egal ob religiös, politisch oder sozial, zu bilden. Diese langfristigen Ideen werden durch Bilder gesteuert. Sie entstehen und festigen sich durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung.
Die Behauptungen der Führer funktionieren beziehungsweise werden ohne Logik, klar formuliert und ohne Alternativen oder Gegenthesen aufgestellt. Je komplizierter eine Behauptung formuliert wird, desto einfacher könnten Zweifler Widerspruch einlegen. Die Wiederholung der Behauptung ist deshalb so wichtig, weil sie Glaubwürdigkeit schafft. Hören wir Aussagen öfter und ohne Gegenrede, so festigen sie sich in unserem Unterbewusstsein und werden allmählich zur absoluten Wahrheit. Le Bon vergleicht das analog mit der Wirkung von Werbung.
Die Übertragung beschreibt das Phänomen, der Verbreitung von Ideen innerhalb einer Masse. Ideen verbreiten sich wie Viren und erschaffen die gleichen Bilder und Gefühle bei allen Mitgliedern. Eine Folgereaktion hieraus ist die Nachahmung, welche die Ursache des kollektiven Handelns einer Masse erklärt.
Um ein anschauliches Beispiel zu konstruieren: Wenn jemand immer wieder, ohne Beweise und unter Missachtung von Gegenstimmen, behaupten würde, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder ihres Erscheinungsbilds kriminell sei, könnte dies dazu führen, dass eine relevante Anzahl an Menschen diese Behauptung irgendwann glaubt und schließlich aktiv gegen diese Gruppe vorgeht.
1.4 Kritische Einordnung: Zeitkontext und spätere Rezeption
Le Bon ist ein Kind seiner Zeit und Vorreiter im Thema der Massenpsychologie. Seine Theorien sind durch seine Erfahrungen und Beobachtungen geprägt. Außerdem beschreibt er immer wieder Rassen, ihre Seele und Eigenschaften. Allerdings dies eher als Produkt von Erziehung und Kultur und weniger als gottgegeben oder biologisch. Michael Günther (2005) kritisiert, dass Le Bon wenig differenziert in seinem Verständnis der Vielfältigkeit von Massen ist. So unterscheidet Le Bon nur zwischen gleichartigen und ungleichartigen Massen („foules hétérogènes“ und „foules homogènes“ (Le Bon, 2009, S. 146)) während Günther zwischen einer gemeinschaftlich gebundenen Masse und einer individuell geprägten Menge unterscheidet. Durch diesen Zusatz lassen sich plötzliche Änderungen in der Stimmung einer Gruppe erklären. Die Missachtung dieser Eigenschaft von Massen nimmt auch Widdig (1992) auf und spricht davon, dass Le Bon die komplexe und ambivalente Dynamik zwischen Individuum und Masse übersieht.
2 Peoples Temple und Jonestown: Ein Fallbeispiel der Massenpsychologie
Im Folgenden wird eine Übersicht über die Geschehnisse und Geschichte des Peoples Temple und eine nähere Betrachtung des religiösen Führers Jim Jones gegeben. Gleichzeit wird eine Einordnung in Le Bons Theorie der Massenpsychologie dargelegt.
Die in dieser Arbeit verwendete Schreibweise von „Peoples Temple“ orientiert sich an der von Prof.in Dr. Rebecca Moore. Sie beschreibt in ihrem Werk „Understanding Jonestown and Peoples Temple“ (2018a) die historische Wandlung des Begriffs von People’s Temple zu Peoples Temple. Beide Begriffe wurden von der religiösen Bewegung selbst verwendet; letzteres hat sich jedoch laut Moore durchgesetzt.
2.1 Entstehung und Entwicklung von Peoples Temple
Der Peoples Temple wurde 1955 von Jim Jones in Indianapolis, Indiana gegründet. Ursprünglich war die Gruppe eine christlich inspirierte Gemeinde mit sozialistischen Elementen, die sich stark für soziale Gerechtigkeit und Rassengleichheit engagierte. In den 1960er Jahren zog Jones mit seiner Gemeinde nach Kalifornien, zunächst nach Redwood Valley, später nach San Francisco und Los Angeles. Dort gewann der Peoples Temple politisch an Einfluss und baute ein weitreichendes Netzwerk auf (Moore, 2018a).
1974 begann die Gemeinde mit dem Aufbau einer landwirtschaftlichen Kommune in Guyana, bekannt als Jonestown. Diese Siedlung wurde als sozialistisches Utopia dargestellt, entpuppte sich jedoch als stark kontrollierte Gemeinschaft, in der Mitglieder isoliert und manipuliert wurden (Moore, 2018a).
Am 18. November 1978 eskalierte die Situation, als der US-Kongressabgeordnete Leo Ryan, der Jonestown untersuchen wollte, ermordet wurde. Daraufhin befahl Jones den Massenmord von über 900 Mitgliedern, indem sie mit Zyankali versetzten Saft tranken; eines der schlimmsten Massaker in der modernen Geschichte (Moore, 2018a).
2.2 Die Person Jim Jones
Schon 1978 skizierte die New York Times Jim Jones Lebenslauf (Lindsey, 1978): Jim Jones wurde am 13.03.1931 in eine finanziell schwache Familie hineingeboren. Sein Vater war Veteran und seine Mutter eine junge und dominante Frau. Nach der Highschool begann er ein Medizinstudium an der Indiana University, wechselte dann aber an die Butler University und erlangte einen Abschluss in Pädagogik. 1949 heiratete er Marceline Baldwin, mit ihr zusammen engagierte er sich im sozialen Bereich, so adoptierte das Paar neben ihrem leiblichen Sohn noch mehrere Kinder verschiedener Herkunft und setzte sich gegen Rassismus und den Vietnamkrieg, für die Rechte der Schwarzen, Hilfe für ältere Menschen und die Rehabilitation von Drogenabhängigen ein. Jim Jones beteiligte sich zunächst als Laienpriester, gründete seine eigene Kirche 1953, welche ausdrücklich offen für alle Ethnien war und wurde schließlich 1964 von der „Christian Church (Disciples of Christ)“ ordiniert.
Die gesundheitliche Verfassung von Jim Jones verschlechterte sich im Laufe der Jahre. Er kämpfte mit Bluthochdruck und Diabetes, nahm Betäubungsmittel und wurde von seinem Arzt als „stark raving mad“ (The New York Times, 1978, Zeile 21) beschrieben. Aus diesen Gründen konnte er Jonestown auch nicht mehr verlassen und musste alle Angelegenheiten durch vertraute Mitglieder in Georgetown, der Hauptstadt Guyanas regeln lassen. (R. Moore, persönliche Kommunikation, 20. März 2025).
Jim Jones besaß sowohl einen persönlichen als auch einen erworbenen Nimbus wie ihn Le Bon beschreibt. Hall spricht von „charismatic authority“ (Hall, 1987, S. 96) und benutzt damit den von Max Weber geprägten Begriff „Charisma“.
Jones hatte eine Aura um sich, welche er nutzte um sich als Prophet und göttliche Figur darzustellen (Hall, 1987). Durch Prophezeiungen und Wunderheilungen konnte er das Vertrauen und den Glauben seiner Mitglieder gewinnen und stellte sich letztlich als Gott selbst dar (Moore, 2018a). Durch die Vorführung von vermeintlich übernatürlichen Kräften erlangte Jones eine quasi magische Anziehungskraft, die unabhängig von materiellen und weltlichen Erfolgen war und somit dem persönlichen Nimbus entspricht.
Den erworbenen Nimbus erlangte er unter anderem durch seine strukturelle Macht innerhalb des Temples sowie sein soziales Engagement außerhalb. Die Strukturen innerhalb des Temples waren so geordnet, dass Jones immerzu seine Macht institutionalisieren konnte. Durch die gezielte Verwendung von symbolischen Handlungen, suggestiven Predigten und Ausnutzung von Hierarchieebenen stärkte er seine Position und sein Ansehen (Hall, 1987). Wir können Le Bons Definition vom erworbenen Nimbus mit diesen Statussymbolen vergleichen. Gefestigt wurde der erworbene Nimbus durch Spendenaktionen für finanziell benachteiligte und diskriminierte Personen. Die Gelder wurden für den Bau von Unterkünften für Obdachlose, Arztbesuche und Universitätsstipendien verwendet (Moore, 2018b).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jim Jones seinen persönlichen und erworbenen Nimbus gezielt einsetzte, um seine Autorität zu etablieren und zu festigen. Somit lässt sich Le Bons „Psychologie der Massen“ -Theorie (2009) auf die Rolle als Führer im Fall Jim Jones übertragen.
2.3 Strukturen innerhalb der Gruppe
Informationen zur Dynamik und Beziehungen innerhalb der Gruppe hat die Forschung auch aus eidesstattlichen Erklärungen, darunter auch die von Deborah Layton Blakey, einem Ex-Mitglied von Jones inneren Kreisen (Blakey, 1979 nach Ulman & Abse, 1983). Demnach hatte Jones das Ziel Mitglieder zu rekrutieren, indem er Angst verbreitete. Einerseits versuchte er, schwarze Mitglieder davon zu überzeugen, dass sie in „Konzentrationslager“ verschleppt werden würden, und weißen Mitgliedern erzählte er, dass die CIA-Verfahren gegen sie eröffnen würde, wenn sie sich vom Temple trennen sollten. Schon bei der Missionierung neuer Mitglieder nutzte Jones das, wie oben erläutert, von Le Bon beschriebene rhetorische Mittel der Behauptung. Um seinen Mitgliedern langfristig Angst vor der Außenwelt, prophezeit er eine nukleare Apokalypse, von welcher er in einer Vision erfahren haben will (The Assassination of Representative Leo J. Ryan and the Jonestown, Guyana Tragedy, 1979). Er lieferte keinerlei Beweise und ließ keine kritischen Äußerungen zu. Um nur ein Beispiel zu nennen: kann man im „Death Tape“, der letzten Tonaufnahme aus Jonestown bevor der Massenmord stattfand, ist zu hören, wie er dort immer wieder die zweifelnden Aussagen einer Frau unterbricht und all ihren Aussagen scheinbar die Wahrheit nimmt (Jones, 1978, Min. 10-11).
Jim Jones benutzte Rituale wie die „White Night“. Ein wiederkehrendes Event, bei dem die Mitglieder Kool-Aid, ein Getränkepulver, tranken und ihnen danach erklärt wurde, dass das Getränk vergiftet sei und sie nun sterben würden (The Assassination of Representative Leo J. Ryan and the Jonestown, Guyana Tragedy, 1979). Das war nie der Fall bis zum 18.11.1978, dem Tag des Massenmords. Es war eine Probe für den Ernstfall, welcher letztendlich eingetreten ist. Durch diese Wiederholung des Rituals war es nicht nur Routine dieses Getränk zu trinken sondern wurde auch der Tod als finales Ende akzeptiert und angenommen (Moore, 2018a). Wie Le Bon beschreibt, wurde durch die Wiederholung das Vorgehen und die Folge internalisiert und ohne Fragen als notwendig angesehen.
Archie Smith Jr. (2003) erklärt, dass die Mitglieder des Temples die Lehren und Behauptungen von Jim Jones annahmen. Sie waren der Überzeugung, dass er unbeschränkt Macht und Recht hatte. Sie gaben die Kontrolle ab und bestärkten ihn immer weiter, was zu einer Spirale der Zustimmung führte. Dieses Vorgehen ist mit der Übertragung im Sinne Le Bons vergleichbar.
Eine langfristige Bindung von den Mitgliedern an die Kirche schaffte Jones indem er sie in ein Abhängigkeitsverhältnis brachte (Johnson, 1979). Die Gruppe brach alle Verbindungen an die Außenwelt ab, Mitglieder brachten alle Ressourcen und Besitztümer in die Gruppe ein und Jim Jones verlangte totales Engagement von ihnen für die Sache. Das Schaffen von Ritualen und Kontakten zu anderen prominenten politischen und spirituellen Führern, wie Father Divine und den Regierungen der Sowjetunion und Cuba (Moore, 2018a), verstärkten das Phänomen.
Die Hierarchie von Peoples Temple war streng autoritär, Jim Jones war die alleinige Spitze. Unter ihm stand eine Gruppe von weißen Frauen, mit einigen von ihnen pflegte er auch sexuelle Beziehungen. Die dritte Stufe war die „Planning Commission“, welche auch bei inszenierten Wunderheilungen mitspielte (Moore, 2018a). Beispielsweise „heilte“ er eine Frau im Rollstuhl, welche nach kurzer Zeit wieder rennen konnte. Diese Frau war jedoch Jones persönliche Sekretärin, welche keinerlei Behinderungen hatte (N.N., 2013). Alle anderen Mitglieder, einfache Gläubige, bildeten die Basis der religiösen Bewegung (Moore, 2018a).
Ein essenzieller Teil für das Leben im Peoples Temple war die Priorisierung der Gemeinde über das Selbst. Durch das Aufspalten der traditionellen Familie, wurden Kinder oft von ihren Eltern getrennt und in Adoptivfamilien integriert. Es fanden regelmäßige Treffen statt, die sog. „Chatarsis“, bei denen Mitglieder öffentlich Beichten ablegen konnten. Hier wurden allgemein Sünden gebeichtet. Dabei erfanden die Pönitenten oft Sünden, um zu zeigen, wie dankbar man dem Temple und Jim Jones für sein neues Leben ist (Moore, 2018a). Beispielsweise behaupteten einige Mitglieder, dass sie vor der Begegnung mit Jim Jones pädophil gewesen seien. Diese Lüge diente dazu sein jetziges (besseres) Ich und den persönlichen Heils- und Werdegang besonders hervorzuheben und so den Temple und vor allem Jim Jones als Erlöser darzustellen. Laut Moore (persönliche Kommunikation, 20. März 2025) ging es hier aber nicht darum sich selbst mit Jim Jones gut zustellen, ihm zu schmeicheln oder seine Anerkennung zu gewinnen, sondern sie glaubten tatsächlich daran, dass sie erlöst wurden. Auch wenn das Erlöste auf einer Lüge basierte.
3 Fazit: Ist Le Bons Theorie nützlich zur Analyse von Peoples Temple?
Diese Arbeit hat untersucht, wie weit Gustave Le Bons Theorien der Massenpsychologie auf die Analyse von Peoples Temple angewendet werden kann. Zusammenfassend ist festzustellen, dass viele, der hier vorgestellten Elemente durchaus zutreffend sind. So verloren die Mitglieder ihre Identität, wurden manipuliert und verraten. Jim Jones entsprich dem Typus eines Führers und besaß einen Nimbus im Sinne Le Bons. Besonders deutlich wurde die Anwendung der Mechanismen der Massenbeeinflussung durch Wiederholung, Suggestion und Autorität.
Allerdings stößt man mit Le Bons Ausführungen auf Grenzen der praktischen Anwendung. Wie dargestellt vernachlässigt Le Bon wichtige soziale und gesellschaftliche Kontexte, welche essenziell für das Verständnis für das Handeln von Menschen und Massen sind. Zudem wird deutlich, dass es sich bei Jonestown um eine sehr komplexe und dynamische Bewegung handelt, die mehr Faktoren aufweist, als Le Bon beschreibt.
Dennoch ist „Psychologie der Massen“ keineswegs zu missachten, sondern eher als Grundlage für die weitergehende Forschung von psychologischen Mechanismen der Massenbewegung für religiöse Bewegungen zu betrachten.
4 Literaturverzeichnis
Blakey, D. L. (1979). Affidavit Re: The threat and possibility of mass suicide by members of the People’ Temple. In The Assassination of Representative Leo J. Ryan and the Jonestown, Guyana Tragedy (S. 304–305).
Federal Bureau of Investigation. (1978). RYMUR (No. Jonestown Part 01) (Abgerufen am: 31.03.2025).
Günther, M. (2005). Masse und Charisma: Soziale Ursachen des politischen und religiösen Fanatismus. Lang.
Hall, J. R. (1987). Gone from the promised land: Jonestown in American cultural history. Transaction Books.
Hentze, J., Graf, A., Kammel, A., & Lindert, K. (2005). Personalführungslehre: Grundlagen, Funktionen und Modelle der Führung. Haupt.
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Lindsey, R. (1978, November 26). Moore, R. (2018a). Understanding Jonestown and Peoples Temple. Praeger, an imprint of ABC-CLIO, LLC.
Moore, R. (2018b, November 16). Before the tragedy at Jonestown, the people of Peoples Temple had a dream. The Conversation. (Abgerufen am: 31.03.2025).
Moore, R. (2025, März 20). Interview Prof. Dr. Moore [Skype].
N.N. (2013, Oktober 22). Did Jim Jones have the power to heal? (Abgerufen am: 31.03.2025).
Smith Jr., A. (2003, November 10). We Need to Press Forward: Black Religion and Jonestown, Twenty Years Later. (Abgerufen am: 31.03.2025).
The New York Times. (1978, Dezember 24). Doctor: Jones Was Close to Death. (Abgerufen am: 31.03.2025).
Ulman, R. B., & Abse, D. W. (1983). The Group Psychology of Mass Madness: Jonestown. Political Psychology, 4(4), 637. https://doi.org/10.2307/3791059 (Abgerufen am: 31.03.2025).
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Widdig, B. (1992). Männerbünde und Massen: Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne.
Fußnote
[1] Im Folgenden werde ich es als „Massenmord“ bezeichnen, da ich persönlich nicht davon ausgehe, dass jede einzelne Person aktiv und bewusst aus voller Überzeugung und ohne Täuschung und äußeren Zwang sein Leben eigenständig beenden wollte.