Mein Leben im und nach dem Peoples Temple

[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.] 

Allein dazusitzen und über irgendetwas nachzudenken, das mit dem Peoples Temple zusammenhängt, zählt für mich zum Schwersten. Ich durchlebe eine Unzahl an Emotionen – gute, schlechte, warme, leere – und sicher bin ich damit nicht die Einzige.

Ich weiß noch, wie ich erstmals mit dem Peoples Temple Bekanntschaft machte. Das war entweder Ende 1971 oder Anfang 1972. Meine Mutter, Kay Nelson, hatte mich gebeten, zu einer Versammlung mitzukommen und diesen Mann zu hören, von dem sie meinte, er sei ein Geschenk Gottes. Ich hatte die Religion, die Kirche und die Pastoren aufgegeben, weil ich einige Jahre lang mit einem Prediger der Pfingstkirche verheiratet gewesen war und wusste, wie es in der Kirche zuging.

Eines Tages fuhr ich zum Vortragssaal im Zentrum von Los Angeles, um meine jüngste Tochter abzuholen, Teri Smart, die bei meiner Mutter gewesen war. Als ich ankam, war Kay mit irgendeiner Art von Essensvorbereitung beschäftigt und sagte mir, dass mein Onkel, Jim McElvane, mich zu Teri bringen würde. Es war eine Falle. Meine Tochter saß auf der Galerie und lauschte Jim Jones. Anstatt sie zu mir heraus zu bringen, bestand Mac darauf, mich zu ihr zu bringen. Als wir dort waren, schlug er vor, dass ich mich eine Minute zu ihr setzte. Da ich keine Szene machen wollte, tat ich das.

Ich war nicht auf der Suche nach irgendeiner Art von Erleuchtung für mein Leben, aber – wie es der Zufall so will – ich war in einer Beziehung, die erniedrigend war. Jim Jones sagte etwas über diese Art von Beziehungen, das genau ins Schwarze traf. Ich blieb nicht bis zum Ende der Veranstaltung, aber mir ging nicht mehr aus dem Kopf, was er gesagt hatte. Ich erzählte meinen anderen drei Kindern von diesem Mann, den ich gehört hatte und überredete sie, mit mir zu kommen und sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Wir alle gingen zu einer Versammlung des Peoples Temple in der Kirche Ecke Alvarado und Hoover, gleich neben der Straße, wo meine Eltern und ich in den frühen 1950ern gewohnt hatten und genau in der Straße, in der ich Eisenhower in einer Wagenkolonne gesehen hatte. Zum Zeitpunkt, als die Versammlung endete, waren meine Kinder und ich bereits hellauf begeistert. Ich denke mir oft, dass, wenn wir diese erste Versammlung nicht besucht hätten, mein Leben so völlig anders wäre, und meine Kinder wären am Leben und würden produktive Leben führen. Wer konnte es ahnen?

Im Laufe des folgenden Jahres wurde ich eine alle-vierzehn-Tage-Gläubige, denn das war Jims Terminplan für den Temple in Los Angeles. In der übrigen Zeit trank und rauchte ich und schob seine Lehren beiseite. So eine Art Sonntagmorgen-Baptistin. Es war das Trinken, das mich in Schwierigkeiten brachte.

David Wise und ich waren in der Zeit, als jener Vorfall sich ereignete, ein Paar, heimlich natürlich. (Später heirateten wir.) Wir hatten jedenfalls Streit über irgendetwas, ich betrank mich und fuhr mit dem Auto davon. Natürlich hatte ich einen Unfall, und natürlich wurde ich verhaftet. Während ich darauf wartete, ins Gefängnis verfrachtet zu werden, bat ich den Fahrer des Abschleppwagens, mein Auto zur Kirche zu bringen, die ungefähr sechs Häuserblocks entfernt lag. Meine Mutter stellte die Kaution, um mich aus dem Gefängnis zu holen, aber damit war meine Bestrafung noch nicht erledigt. Sie hatte im Auto einige Temple-Berater mitgebracht, die mich dafür, was ich getan hatte, ausschimpften. Als Jim das nächste Mal in der Stadt war, hielt er mir ebenfalls eine Standpauke. Ich weiß noch, dass ich weinte, aber nicht aus Reue, sondern, weil ich wütend war darüber, wie er mich behandelte. Später erzählte meine Mutter mir, wie stolz Vater war, dass ich seine Züchtigung so demutsvoll angenommen hatte. Ich dachte, wen interessiert’s, wie stolz er ist, ich bin kein Kind und verdiene es nicht, wie eines behandelt zu werden.

Während meiner fünf Jahre im Peoples Temple war ich manchmal drinnen und manchmal draußen. Es gab Zeiten, da glaubte ich, er sei Gott – allwissend, alles sehend und allmächtig – und es gab Zeiten, da glaubte ich es nicht.

Einmal, während ich für die Regierung arbeitete, sollte ich nach Indianapolis, Indiana, um dort ein Katastrophenteam zu unterstützen, das Darlehen an Überschwemmungsopfer vergab. Ich stellte einen schriftlichen Antrag, um die Erlaubnis zu erhalten, hinfahren zu dürfen, aber Jim lehnte ab. Indianapolis sei eine rassistische Stadt, sagte er, und er wolle nicht, dass ich mich in dieser Umgebung aufhalte. War das sein wirklicher Grund oder machte er sich Sorgen, ich könnte etwas über seine Vergangenheit herausfinden?

Als mein Arbeitgeber mich das nächste Mal bat, einen Katastropheneinsatz wahrzunehmen, fuhr ich, ohne Jims Zustimmung einzuholen. Ich absolvierte meinen Wachdienst im Temple und sagte zu meiner Ablöse, dass ich nach Hause müsse, um etwas zu holen, aber gleich wieder zurück sei. Ich ging nach Hause, packte und fuhr zum Flughafen. Als ich bei der Tür anlangte, die zum Ticket-Schalter führte, sah ich Tish Leroy, die den Eingang bewachte, sowie ein paar Security-Leute des Peoples Temple, die sich an beiden Seiten des Ticket-Schalters postiert hatten. Ich überlegte, den Flughafen zu verlassen, dann sagte ich mir, zum Teufel damit, ich fliege zu diesem Einsatz. Ich ging durch die Flughafenlobby, direkt an Tish vorbei und geradewegs zum Ticket-Schalter. Tish kam auf mich zu und sagte, meine Mutter habe einen Herzinfarkt erlitten und Scott, mein jüngster Sohn, habe einen Unfall gehabt. Sie hatten den Flughafenmanager überzeugt, dass es sich um einen Notfall handle, und er ließ sie sein Büro und Telefon benützen. Ich war wütend, wollte aber – einmal mehr – keine Szene machen, also ließ ich mich auf etwas ein, das ich für einen riesigen Schwindel hielt. Sie riefen im Temple an und holten meine Mutter ans Telefon. Dank „Vater“ war sie auf wundersame Weise genesen. Und natürlich ging es auch meinem Sohn wieder gut, dank Sie-wissen- schon-wem. Meine Mutter übergab dann den Hörer an Jim, der mir mitteilte, welch großartige Chance sich mir böte. Er sagte, es gebe einige Leute in Detroit, mit denen ich unmittelbar nach meiner Ankunft in Kontakt treten solle. Ich notierte mir die Nummern dieser Kontakte in Detroit, rief aber nicht an. Es hat mich immer erstaunt, dass dieser Mann so viel Macht hatte, und dass alle nach seiner Pfeife tanzten.

Inzwischen war ich Beraterin im Los Angeles -Temple geworden. Ich war fest entschlossen, herauszufinden, was hinter diesen geschlossenen Türen bis in die frühen Morgenstunden vor sich ging, und Beraterin zu werden war eine Möglichkeit, es herauszufinden. Ich glaube, dass die Kirche mich zur Beraterin machte, um herauszukriegen, wo David steckte. Mein Ehemann hatte die Kirche zu jener Zeit verlassen.

Einmal war ich gerade in den Los Angeles-Tempel zurückgekehrt, nachdem ich David in einem Motel versteckt hatte, als Jim und sein Security-Team mich zu Davids Verbleib befragten. Obwohl ich Jim für Gott hielt – wie also könnte ich ihn zum Narren halten? – antwortete ich, ich wüsste nichts. Ich fiel nicht tot um. Dann fragte Jim, wann ich ihn zuletzt gesehen hatte, und ich sagte, vor ungefähr drei Tagen. Ich fiel immer noch nicht tot um. Das war dann ein weiteres Stück Beweis, das ich brauchte, um mir selbst zu sagen, dass ich hier raus musste.

Der Tropfen, der dieses Fass zum Überlaufen brachte, fiel während einer Sitzung der Planungskommission (PC) in Los Angeles. Eine junge Frau wurde aufs Parkett gebracht, sie wurde irgendeiner Sache beschuldigt, ich kann mich nicht wirklich erinnern, was es war. Es wurde ihr befohlen, sich vor den PC-Mitgliedern auszuziehen, und von uns wurde erwartet, dass wir sie und ihren Körper lächerlich machten. Ich spürte, wie erniedrigt sie sich fühlte und bin sicher, dass viele andere der Anwesenden es genauso spürten. Wie konnte ein Mann, der sich zu solcher Liebe, zu so viel Mitgefühl für andere bekannte, einem anderen menschlichen Wesen  so etwas antun?

Später, bei demselben Treffen, wurde im PC aufs Tapet gebracht, dass David Jims Telefon abgehört haben sollte. David war nicht da, um sich beschimpfen zu lassen, also prasselten die Attacken auf Familienmitglieder des Beschuldigten nieder. Ich sagte gar nichts –  ein absolutes No-Go. Jemand wandte sich mir zu und fragte, wie ich darüber denke. Ich beschloss, mich dumm zu stellen und fragte, “Über was denke?” “Dass David Vaters Telefon abgehört hat.” sagte mein Widersacher. “Falls er Vaters Telefon abgehört hat”, antwortete ich, “ dann war das wohl falsch.” Falsche Antwort. Jetzt war ich dran.

Nachdem ich die obligatorischen verbalen Schmähungen eine Zeitlang über mich ergehen lassen hatte,  fing ich an zu weinen. Jim fragte, warum ich weine, und ich sagte, ich wolle raus. Er sagte, wenn ich ginge, müsste ich wegziehen, mindestens hundert Meilen entfernt von jedem Peoples Temple. Ich antwortete, dass ich fast mein ganzes Leben in Los Angeles verbracht hatte, und weder er noch sonst jemand könnten mir sagen, dass ich umziehen müsse.

Daraufhin bot er eine Alternative an: meine Kinder der Kirche zu überschreiben. Ich stimmte zu, aber nur, weil ich einen Freund hatte, der Anwalt war und seinerseits einen Freund hatte, der Richter war und einen Gerichtsbeschluss ausstellen konnte, der das volle Sorgerecht auf den Vater der Kinder übertrug. Der Gerichtsbeschluss wurde am darauf folgenden Montag ausgestellt.

Jims letzte Forderung, um mein Schweigen sicherzustellen, war, dass ich Fingerabdrücke auf einer Waffe hinterließ, die von meinem Onkel zur Verfügung gestellt wurde. Nachdem ich sie angefasst hatte, wurde mir die Waffe weggenommen und in eine Tasche gelegt. Wiederum achtete ich darauf, diese Information meinem Anwalt zukommen zu lassen.

Nach alledem wollte Jim, dass ich mich in ein PC-Treffen setzte, um über Sicherheitsmaßnahmen für seine persönlichen Räumlichkeiten in den drei Kirchen zu entscheiden. Ich würde nicht in die Lage kommen, Einzelheiten zu erfahren. Ich sagte zu ihm, dass er, da er uns ja alle für potenzielle Verräter hielt, drei Personen auswählen sollte, deren Namen nicht dem ganzen PC mitgeteilt werden sollten, und dass die von ihm ausgewählte Person einen Stellvertreter wählen sollte. Das war mein letztes Treffen.

Ich habe nun zwar einiges mitgeteilt, das die schlimme Seite des Peoples Temple zeigt, muss jedoch zugeben, dass es Zeiten gab, an die ich mich gerne erinnere. Es war erhebend, die Busse in die Stadt rollen zu sehen. Die Kameradschaft unter den Mitgliedern ist etwas, das mich immer begleiten wird.

Jim Jones hatte anfangs wahrscheinlich gute Absichten. Warum sollte irgendeine weiße Person es mit dem weißen Establishment aufnehmen, um schwarzen Menschen, armen Menschen, den Ausgestoßenen der Gesellschaft zu helfen? Warum pflegte der Mann keinen opulenten Lebensstil, so wie andere Prediger es taten? Man könnte sagen, er handelte so, um Macht und Kontrolle über seine Leute zu erlangen, aber das ist nicht wahr. Daddy Grace und Father Divine hatten Macht und Kontrolle, lebten aber recht gut dabei. Was ich glaube, ist, dass Macht eine Sache ist, die einem zu Kopf steigt, und dass sie nach einer Weile die Tendenz hat, einen zu korrumpieren. Die Tatsache, dass der Mann auf Drogen war, hat die Sache bestimmt nicht besser gemacht. Als ich ihn in Guyana gesehen habe, war es offensichtlich, dass sein Drogenmissbrauch diesen einst dynamischen Redner auf den Level jener reduziert hatte, die er von der Straße holte.

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Nach dem 18. November 1978 war ich in einem Zustand der Fassungslosigkeit. Ich war wütend auf meine Mutter. Ich war wütend auf meinen Onkel. Ich wollte, dass  Jim Jones lebte, damit ich ihn umbringen konnte. Dann durchlief ich die Phase der Schuldgefühle, aus der ich nie völlig rausgekommen bin. Irgendwie habe ich es geschafft zu leben, ohne mich selbst jede Nacht – oder zumindest jedes Mal, wenn ich zu lang an das denke, was vor fast 26 Jahren passiert ist –  bewusstlos zu trinken. Ja, ich verfalle immer noch in Phasen des Selbstmitleids, aber ich hasse Jim oder meine früheren weißen Peoples Temple-Schwestern und Brüder nicht mehr. Meine Hoffnung ist, dass wir alle Frieden in uns selbst finden. Ich gehe nicht in die Kirche, aber das ist meine Sache, und ich finde nichts Falsches daran, wenn andere es tun.

Die Mutter einer Freundin von mir war in einer Sekte. In der Zeit, als sie dort involviert war, wollte ihr Ehemann, dass ich mit mir spreche. Ich fand keine Worte. Ich glaube, wer wahrhaft glaubt und auf der Suche nach einem utopischen Leben ist, läuft möglicherweise Gefahr, durchzumachen,  was wir Überlebende des Peoples Temple durchgemacht haben. Ich glaube nicht, dass man jemanden davon abhalten kann, einer Bewegung beizutreten, die das Potential in sich trägt, gefährlich zu werden.

Ich bin immer eine Skeptikerin gewesen, daher war es schwer für mich, über längere Zeit hinweg wahrhaft zu glauben. Unglücklicherweise habe ich jene erste Versammlung besucht, und unglücklicherweise hat meine Skepsis nicht früher eingesetzt. Ich habe sie aber besucht, und ich war nicht früh genug skeptisch, und damit lebe ich also. Obwohl ich meine ganze Familie verloren habe, versuche ich, mich daran zu erinnern, dass nicht alles an dieser Erfahrung schlecht war. Ich bin sehr viel toleranter, sehr viel mitfühlender und ein gutes Stück weiser. Ich bin alleine alt geworden, aber nicht verbittert und ohne irgendjemandem die Schuld zu geben.