Der Sommer 1972

Das Jahr 1972 war voller historischer Ereignisse. Ich erinnere mich noch an den Terroranschlag auf das israelische Ringerteam bei den Olympischen Spielen in München. Ich fand es schwierig zu begreifen, wie Siege und Tragödien an ein und demselben Ort geschehen konnten. Die USA feierten Mark Spitz, der sieben Goldmedaillen gewonnen hatte, und Israel weinte um elf Athleten, die ihr Leben verloren hatten.

1972 leitete der Einbruch in den Watergate-Gebäudekomplex einen der größten politischen Skandale der modernen Zeit ein. Fünf Agenten des Weißen Hauses wurden verhaftet, weil sie in die Büros des Nationalen Organisationsgremiums  der Demokratischen Partei eingebrochen hatten; dies war der Anfang des Watergate-Skandals.

Die NASA startete im Januar 1972 offiziell ihr Space Shuttle Programm. Am 13. Juni 1972 traf Hurricane Agnes die Ostküste und tötete117 Menschen.  Die Welt war schockiert zu erfahren, dass 16 Personen, die einen Flugzeugabsturz überlebt hatten, zu Kannibalen wurden, um zu überleben. 1972 staunten wir, als HBO erstmals per Satellit sendete, über kostenpflichtige Kabelverbindungen. So viele, viele andere berichtenswerte Ereignisse geschahen in diesem Jahr.

Photo courtesy California Historical Society

Ein Ereignis, das keine weltweite Aufmerksamkeit erlangte, war, dass Jim Jones eine Flotte überladener Autobusse auf einen Kreuzzug quer durch die Lande führte. Ich höre von anderen viele Geschichten über Zeiten, “bevor es schlimm wurde“ im Peoples Temple. Einige von uns würden gern herausfinden, wann genau das war. Ich schätze, es hing immer davon ab, ob man die Kehrseite der Medaille zu sehen bekam oder nicht. Diese Bustour war bestimmt keine gute Zeit.

Wir hatten monatelang davon gesprochen und eine Menge Zeit mit Vorbereitungen verbracht. Die Bustour würde Wochen dauern, denn das Evangelium nach Jim Jones fegte von Küste zu Küste wie ein Hurricane. Weil meine Mutter zehn Kinder mitnehmen würde, wurde beschlossen,  dass das ältesten Enkelkind der Familie zuhause bleiben und sich um unsere 80jährige Großtante Willie kümmern sollte. Mama kaufte uns neue Kleider für die Reise, bereitete Versorgungspakete für uns vor und erklärte uns, wie wir uns zu benehmen hatten. Es klappte dann dennoch nicht wie geplant,  weil meine Nichte Curly in der Woche vor der geplanten Abreise einen schlimmen Anfall hatte und Mama zuhause bleiben musste, um sich um sie zu kümmern.

Das bedeutete, dass in jenem Sommer neun von uns Kindern den Bus bestiegen, ohne eine erwachsene Person aus unserem Haushalt, die ein Auge auf uns haben würde. Meine Schwester Darlene, meine Nichte Tiny und ich stiegen in Bus 13. Wir dachten, wir hätten ein sorgenfreies Abenteuer vor uns, und ich freute mich auf all die Orte, die auf unserer Route lagen – u.a. Texas, Illinois, Michigan, Georgia, Philadelphia, New York und Kanada – bevor wir nach San Francisco zurückkehren würden.

Worauf wir nicht vorbereitet waren, war die Überbelegung des Busses. Etwa 45 Passagiere hätte er fassen sollen, aber da auf manchen Sitzen drei statt zwei Personen saßen und der Gang, die Ablagen über den Sitzen und der Gepäckraum voll mit Menschen waren, wurde das ein Abenteuer für sich.  Es stank aus der Toilette, die Klimaanlage funktionierte nicht richtig, und die Leute beschwerten sich.

Einmal fuhr ich in dem Bus, in dem Jim Jones fuhr. Ich konnte den Unterschied kaum fassen. Er war nicht überfüllt, es gab eine tatsächlich funktionierende Klimaanlage, und aus der Toilette kam kein Gestank. Ich lernte an jenem Tag eine Menge über den Unterschied zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten und fing an, die Dinge klarer zu sehen. Ich wurde üblicherweise zum Putzen der Busse eingeteilt, wenn die Leute ausstiegen. Ich kann kaum sagen, wie sehr ich das hasste. Wenn ich daran denke, habe ich den Gestank dieser Busse in der Nase. 50 Jahre ist das her, und ich rieche ihn immer noch!

Lange vor unserem ersten Zwischenstopp in Texas wünschte ich mir, ich wäre einfach zuhause geblieben. Wenn wir Toilettenpause machten, mussten wir endlos Schlange stehen, nur um die Toiletten zu benutzen. Jim Jones sagte, wir müssten überall, wo wir hin kämen, einen guten Eindruck hinterlassen. Das hieß, wenn die Toiletten bei unserer Ankunft schmutzig waren, würden sie blitzblank sein, wenn wir abreisten. Wenn Müll auf dem Boden lag, wurde alles sauber gemacht, bevor wir gingen.

Die Mahlzeiten, die wir unterwegs hatten, waren nichts, worauf man sich freuen konnte. Ich hatte dermaßen genug von Thunfisch-Sandwiches, dass ich innerlich aufstöhnte, wenn ich sah, wie die Essens-Crew diese riesigen Thunfischdosen öffnete. Ich bin allergisch auf Meerestiere, aber das wusste ich damals nicht. Bis heute frage ich mich, woher sie diese riesigen Thunfischdosen hatten. Nie wieder, seit ich den Peoples Temple verlassen habe, habe ich derart große Dosen gesehen. Ich vermute, sie wurden aus überschüssigen Militärbeständen oder etwas Ähnlichem beschafft.

Als wir schließlich in Texas ankamen, erfuhren wir, dass wir auf dem Boden einer Sporthalle schlafen würden. Das hatte uns, als sie unser Reisegeld einsammelten, keiner gesagt. Ja, wir mussten zahlen für die Busfahrten, sogar, wenn wir aus San Francisco zu den Gottesdiensten in Los Angeles fuhren. Die Gratisfahrten gab es erst viel später. Das war ein Teil der Beschwerden, die ich jenen Sommer hörte, vor allem von den Älteren. Die Leute waren aufgebracht darüber, dass wir mit hunderten anderen gemeinsam auf dem Boden einer Schulsporthalle schlafen mussten.

Einige Leute hatten das Glück, in Privatwohnungen von Sympathisanten des Peoples Temple untergebracht zu werden. Ich persönlich danke diesbezüglich Gott für Violet Jones.

Meine Schwester Darlene, einige Freunde von mir und ich hatten die Aufgabe, am Eingang die Namen der Leute aufzuschreiben, die zu den Gottesdiensten kamen. Ich glaube, es war meine beste Freundin Toni James, die mich eines Tages überredete, das mit ihr gemeinsam zu machen. Ich kann freundlich sein, wenn ich muss, und ich erinnere mich, wie ich lächelnd Leute nach ihrem Namen, ihrer Adresse und Telefonnummer fragte. Ich dachte, dass ich das nur dieses eine Mal machte. Wie hatte ich mich getäuscht!.

Am nächsten Tag hing ich vor dem Gottesdienst gerade mit Freunden rum, als Violet – die über die Namenschreiber die Oberaufsicht hatte – auf mich zukam und fragte, warum ich nicht an der Tür stand und Namen aufschrieb. Ich sagte, ich sei keine Namenschreiberin, ich hätte das am Vortag bloß gemacht, um Toni Gesellschaft zu leisten. Es war ein böses Erwachen, als ich erfuhr, dass ich dauerhaft dafür eingezogen worden war. Offenbar waren meine Handschrift und mein falsches Lächeln genau das, was sie an der Tür haben wollten.

Ich hatte Violet wirklich gern. Sie hielt uns eng an der Kandare, war aber immer gut zu uns und passte auf uns auf. Sie schrieb uns nie wegen nichtiger Kleinigkeiten auf. Violets Schwester Jackie Fountain und ihre Nichte Valerie Jones waren mit Darlene und mir befreundet. Jackie und ich hatten immer viel zu lachen. Die Gemeinde sang immer das Lied “Jesus ist ein Quell.” Der Text lautete: “Jesus ist ein Quell, der nicht versiegt.”, aber Jim Jones änderte den Text auf “Vater ist ein Quell, der nicht versiegt.“ Jackie änderte ihn nochmals um auf: “Vater ist ein Quell, ein Quell bin ich.“

Ich erwähne Violet, Jackie und Valerie, weil sie in Texas Familie hatten und wir bei ihnen wohnten, solange wir dort waren.  Texas habe ich als heiß und feucht in Erinnerung. Ich hatte das Pech, neben einem Ameisenhaufen zu stehen, und ich wurde wirklich böse gebissen. Es heißt ja, dass alles groß ist in Texas, und das stimmt. Für die Größe der Ameisen kann ich mich persönlich verbürgen. Es war Violet, die gegen meine Ameisenbisse etwas fand, das half, die Schwellung an meinem Bein zu lindern.

Wir hatten eine tolle Zeit in Texas, nicht wegen der Bus-Karawane, sondern, weil wir eine Menge außerhalb davon unternahmen. Wir tauchten bloß zu den Gottesdiensten auf und gingen nachher mit Violet. Ich war so dankbar dafür, heiß duschen, meine Haare und Kleider waschen zu können, richtiges Essen zu essen und ungestört auf der Toilette sitzen zu können. Die Familie behandelte uns mit echter Gastfreundschaft. Es machte uns einen Heidenspaß zu hören, welchen Spitznamen ihre Familie für Violet hatte: “Lotta B.” Ich war traurig, als die Erweckungsveranstaltungen in Texas vorbei waren und wir uns wie die Sardinen wieder auf Tour begaben, um unterwegs Thunfisch zu essen.

Unser Empfang im Süden war, wie es eben zu erwarten war, wenn Busse vollgepackt mit Menschen verschiedener Hautfarben dort in Parks und Rastplätze rollten. Die Feindseligkeit war greifbar und wurde unverhohlen zum Ausdruck gebracht. Eines Tages waren wir in einem Park in Lousiana und spielten auf den Schaukeln mit einigen weißen Kindern aus der Gegend. Ihre Mutter kam angerannt, schnappte sich einen ihrer Söhne und schrie den anderen an: “Billy Bob, gehst du weg von diesen Leuten! Du weißt, dass du nicht mit denen spielen darfst!” Ich sehe immer noch vor mir, wie verwirrt Billy Bob dreinsah, während sie die beiden fortscheuchte. Wir waren einfach nur spielende und lachende Kinder, bis seine Mutter kam und ihn daran erinnerte, wer er war und was wir waren.

Der Tiefpunkt der Reise war wohl allerdings, als wir eines Abends in Mississippi auf einem bewaldeten Rastplatz Halt machten. Da baumelte ein richtiger Galgenstrick von einem Baum, zur Schau gestellt wie ein Mahnmal…oder eine Warnung. Ich starrte ihn an und fragte mich, wie viele Menschen wohl darin gehangen hatten. Jemand aus unserem Bus schnitt ihn ab. Es war heiß und feucht in Mississippi, aber beim Anblick dieses Stricks fröstelte mich.

Ich kann mich nicht an alle Städte erinnern, in denen wir Halt machten, um unseren Zirkus aufzubauen, auch nicht an die Reihenfolge. Detroit war schmutzig und voller Glasscherben. Chicago habe ich nur verschwommen wahrgenommen, ebenso Indiana. Ich weiß allerdings noch, dass die Busse zu Jim Jones’ Elternhaus fuhren und es eine geführte Tour zu den Plätzen gab, an denen er aufgewachsen war.

Ich erinnere mich auch, wie wir zu  Capitol Hill in Washington, D.C. fuhren und dort bei der National Mall herumblödelten. Ein Kongressabgeordneter kam heraus, um uns zu begrüßen.  Darlene, Tiny und ich machten Fotos. Mama hatte uns weiße Röcke mit dazu passenden roten und weißen Blusen gekauft. Wir fanden, dass wir hübsch aussahen! Ich weiß nicht, was aus unseren Fotos geworden ist, aber die Temple-Fotografen  wussten jene, die sie machten, hervorragend zu nutzen.

Unvergesslich war Philadelphia. Dort wurde ich Zeugin einer Schein-Heilung. Ich sah, wie eine Frau sich einen falschen Gips anlegte, um sodann “auf wundersame Weise geheilt” zu sein, nachdem Jim Jones sie im Gottesdienst berührt hatte. Ich hatte mir immer gedacht, dass die Heilungen Schwindel waren, aber nun sah ich es mit eigenen Augen.

Ich fragte mich, warum wir hier waren. Ich war 13 Jahre alt. Warum konnte Mama diese ganze Scharade nicht durchschauen?

Wir übernachteten in einer Kirche, die aussah wie eine Kathedrale aus dem 17. Jahrhundert. Statt auf dem Boden schliefen Cardell Neal, Anthony Buckley und ich in unseren Schlafsäcken auf dem Dach. Es war so heiß und beengt in dieser Kirche, dass uns nicht einmal kümmerte, ob wir vielleicht vom Dach fallen könnten. Es war ruhig da oben, und es wehte ein sanftes Lüftchen. Wir lagen auf unseren Rücken, schauten in die Sterne und lachten über die Witze, die wir machten.

Wir fuhren durch New York und nach Kanada an der Grenze, wo die Niagara-Fälle liegen. Ich war begeistert von den Wasserfällen, es war atemberaubend. Wir fuhren durch Kanada, verließen es bei Montana und düsten durch Idaho. Ich begann meinen Countdown  für die Ankunft zuhause, als wir Nevada erreichten. Ich konnte es nicht erwarten, heim zu kommen. Der Bus stank, die Schlangen vor der Toiletten waren endlos, und der Thunfisch war uns immer noch nicht ausgegangen!

Zu dem Zeitpunkt, als wir die Grenze zurück nach Kalifornien passierten, war mir, als bewegten wir uns im Schritttempo auf zu Hause zu, und da war ich nicht die Einzige. Ich war wütend, weil ich immer noch nicht daheim bei meiner Familie war, wo es gutes Essen gab, wo ich Spaß haben konnte im städtischen Schwimmbad und auf Sommer-Partys und wo ich telefonieren konnte. Mehr als alles andere vermisste ich unsere Badewanne.

* * * * *

Es war ein Sommer vor langer Zeit. Die Mehrheit der Passagiere in dieser Buskarawane ist nicht mehr. Ich trauere um die Sommer, die sie nicht erleben durften, ich weine um ihr Lachen, das nicht mehr da ist. Ja, sie lachten in jenem Sommer. Sie lachten trotz der übervollen Busse. Tatsächlich lachten sie über das alles.

Wieso waren wir so glücklich? Wie konnten wir fröhlich sein, wo wir doch von Chaos umgeben waren? Die letzten 42 Jahre habe ich mich gefragt, wie das möglich war. Vielleicht war es vereinigte Hoffnung, die Hoffnung, dass, was wir gemeinsam ertrugen, die Welt besser machen würde. Das war nicht der Fall. Manchmal scheint es, als sei die Welt nach diesem tragischen Tag vor 42 Jahren vor die Hunde gegangen.

Ich konnte es kaum erwarten, dass diese Tour zu Ende ging. Manchmal wünsche ich mir, sie hätte nie geendet. Ja, es war eng und überfüllt, es war heiß und es stank, da waren Feuerameisen, Galgenstricke, die in der Finsternis baumelten, und ja: es war eine Farce. Was lässt mich wünschen, dass es nie endete? Vielleicht ein paar kichernde Mädchen, die am Eingang Namen aufschrieben. Sind es womöglich drei Kinder auf einem Dach, die dort in einer Sommernacht auf dem Rücken lagen und nach den Sternen griffen? Vielleicht ist es dieser erhebende gemeinsame Moment, als wir die Gischt der herabstürzenden Wasser der Niagarafälle betrachteten und spürten.  Ich weiß nicht, was es ist, aber ich würde alles geben, um es wiederzubekommen. Weiß Gott, ich würde sogar noch eines dieser ekelhaften Thunfisch-Sandwiches essen, bloß, um meine Schwester wieder zu umarmen.

Die Liebe und das Lachen, das wir teilten, die gemeinsame Hoffnung, dass die Dinge besser werden könnten. Mit den Jahren habe ich gelernt, dass die Zeit grausam sein kann. Die Grausamkeit verblassender Erinnerungen, der Schmerz des Vergessens kann manchmal unerträglich sein. Also schreibe ich. Jeder Federstrich bettet sie ein in die Ewigkeit. Ich schreibe, damit sie nie vergessen werden. Ich schreibe, um mit einer Schriftrolle zu winken wie mit einem Staffelstab. Einem Staffelstab, der an Läufer übergeben werden soll, die erst kommen müssen. Ich bin dankbar für die anderen Läufer hier mit ihren Schriftrollen, wann immer ich eure Geschichten lese. Schriftrollen, die mit Würdigungen gefüllt sind.

Würdigung. Das Wort bedeutet: gut über jemanden zu sprechen. Also hört nicht auf zu schreiben, hört nicht auf, ihre Hoffnungen und Träume zu würdigen, die die Zeit aus unseren Erinnerungen zu löschen versucht.

Ja, schreibt, auf dass wir nicht vergessen und der Welt nicht erlauben, sie mit ihren Unterstellungen noch einmal zu töten.