Für meine Familie

[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.]

Im Alter von 24 Jahren heiratete ich Betty Leon Carter. Es war das Jahr 1973, ich war 24, fest angestellt und bereit, die Welt zu erobern. Das einzige, was ich noch brauchte, war eine eigene Familie.

Ich war in San Francisco aufgewachsen, bei meiner Mutter Dorothy Lee Daniel, und dazwischen verbrachte ich jedes zweite Jahr bei meinem Vater, um auf seiner Farm in Texas mitzuarbeiten. Ich liebte meinen Vater, aber jedes Jahr fürchtete ich mich davor, meine Freunde und meinen gewohnten Alltag zu verlieren. Diese Unterbrechungen lehrten mich die Bedeutung von Stabilität und Sicherheit im Leben eines Kindes. Und, dass es wichtig ist, sich aktiv ins Leben seines Kindes einzubringen.

Ich kam aus einer Familie, in der man miteinander sehr eng war. Wir gingen ein und aus im Zuhause der jeweils anderen. Da wurde nicht angeklopft, nicht vorher angerufen, ob es auch erlaubt war. Wir mischten uns in das Leben der anderen ein, stritten uns, maßregelten die Kinder der anderen. Wir waren eine Familie, und für uns war das damals eben, was Familien taten. Es gab keine im Voraus geplanten Treffen zum Spielen oder Einladungen zu Familienessen. Deine besten Freunde waren deine Geschwister, Cousins und Cousinen. Wer mit einem von uns ein Problem hatte, der hatte mit uns allen ein Problem. Betty lachte und plauderte mit den Damen und gehörte sofort dazu. Dazu gehörten auch meine Tante Verdella Duncan, ihr Mann Onkel Walter und deren Kinder Sonje Regina und Tyrone. Ich war der jüngste von vier Brüdern, und sie alle liebten meine Frau und unsere Jungs, als wären sie ihre eigenen.

Betty hatte bereits zwei Söhne, in die ich sofort verliebt war. Marcus Emile Morgan war zwei Jahre alt und Maurice Chaunte Carter war gerade erst zur Welt gekommen. Im darauf folgenden Jahr wurde uns Steve Nathaniel Daniel III geschenkt. Als ich Klein-Steve zum ersten Mal in den Armen hielt, wurde  mir klar, dass mein Herz nicht länger mir gehörte.

Ich arbeitete zu jener Zeit bei den Wasserwerken in San Francisco, und Betty blieb zuhause bei den Kindern. Alle drei Jungs erwarteten mich bereits, wenn ich nach Hause kam. Noch bevor ich durch die Tür trat, hörte ich, wie sie mir entgegen liefen, einer lauter und schneller als der andere, um mir alles über die Abenteuer zu erzählen, die der Tag für sie bereitgehalten hatte. Ich achtete darauf, jedem die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdiente.

* * * * *

Wenn ich heute zurückblicke, habe ich das Gefühl, es müsse einen Moment gegeben haben, an dem sich festmachen lässt, wann der Peoples Temple ein Teil unseres Lebens wurde. Dem war aber nicht so. Wie so viele Dinge im Leben geschah es schrittweise.

Mein älterer Bruder Charles Wesley war mit dem Gesetz in Konflikt geraten und versuchte, wieder in die Spur zu kommen. Er hatte von einer Kirche oben in Ukiah gehört, in der Leute, die eine zweite oder dritte Chance brauchten, herzlich aufgenommen wurden. Er hatte nicht das Gefühl, viele Optionen zu haben, also fuhr er rauf, um sich die Sache anzusehen. Als er zurückkam, schien er ein anderer Mensch zu sein, zurückhaltender und gelassener, erfüllt von einer neuen, friedvollen Energie. Er war überzeugt, etwas Lebensveränderndes gefunden zu haben. Neugierig auf die Ursache von Charles’ auffälliger und zugleich subtiler Veränderung, begann meine Familie, ihm bei seinen Ausflügen in den Norden hinterher zu trotten. Einfach so, direkt vor meinen arglosen Augen, war meine Familie dem Peoples Temple beigetreten.

Ich war zwar nicht, was man religiös nennen würde, aber ich war ein gottesfürchtiger Mensch. Vor allem aber war es mir wichtig, die Menschen, die ich gern hatte, zu unterstützen. Manchmal erfolgte diese Unterstützung aus einer leichten Distanz heraus, aber solange sie glücklich waren, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Pflicht erfüllte. Für mich war klar: wenn es an der Zeit für einen war, einzuspringen, dann war das eben genau, was man tat. Man fragte nicht nach Erklärungen, Gründen oder etwas in der Art, und da ich der Jüngste in der Familie gewesen war, wusste ich auch, dass man insbesondere Ältere nicht in Frage zu stellen hatte.

An Samstagabenden fuhr ich meine Familie hoch nach Ukiah zu den Gottesdiensten. Einmal bat mich meine Mutter, mit hinein zu gehen und einfach neben ihr sitzen zu bleiben. Sie beharrte darauf, dass es eine freundliche Umgebung sei und es nichts gab, worüber ich mir Sorgen machen müsste. Zu jener Zeit dachte ich wirklich nicht, dass ich einen Grund hätte, mir Sorgen zu machen. Schließlich und endlich gingen sie ja in die Kirche.

Während ich auf das Eingangstor des Temples zuging, war ich jedoch zugegebener Weise etwas irritiert, als ich dort Wachen stehen sah. Noch verstörender war, dass ich meinen Ausweis herzeigen musste, bevor ich eintreten durfte. Hinter uns wurden die Türen versperrt, und erst um drei Uhr früh, nach Ende des Gottesdienstes, würde man sie wieder öffnen. Ich hielt mein Versprechen an meine Mutter und blieb während der gesamten Dauer der Zeremonie bei ihr sitzen. Ich wusste wirklich nicht, was ich von der ganzen Inszenierung halten sollte. Es gab eine Menge Predigten von Jim Jones, und dann noch mehr davon. Ich erinnere mich, wie ich dachte, dass dieser Typ sehr eingebildet war und sich selber gern reden hörte. Dann fiel mir ein, dass ich an einem Ort der Anbetung war, und ich schalt mich im Stillen dafür, dass ich mich zum Richter über einen anderen machte, erst recht über einen Geistlichen. Den Rest der Nacht verbrachte ich im Bemühen, nicht auf die Uhr zu sehen und nicht an die Fahrt zu denken, die ich vor mir hatte. Es gab während dieses Ausflugs nichts bemerkenswert Auffälliges, keine geheimen Treffen oder Codesprachen, nichts, das auch nur annähernd so war wie in etlichen Berichten, von denen ich über die Jahre hinweg gehört habe.

Aber das wurde unser Leben. Während der Woche arbeitete ich bei den Wasserwerken; wenn ich nach Hause kam, versuchte ich, noch so viel Zeit wie möglich mit den Jungs zu ergattern, bevor sie ins Bett mussten. Betty verbrachte eine Menge Zeit damit, die Bibel zu studieren und hatte Arbeit mit den Jungs. Ein paar Mal die Woche traf sie sich zu „Diskussionen“ mit anderen Familienmitgliedern. Das war die Routine, in die wir gerutscht waren, und es schien, dass jeder seinen Part erfüllte. Dann, jeden Samstagabend, fuhr ich zweieinhalb Stunden lang nach Ukiah, um alle beim Peoples Temple abzusetzen, und wenn die Messen vorbei waren – um drei, manchmal vier Uhr morgens – machte ich kehrt und fuhr weitere zweieinhalb Stunden lang zurück nach Hause. Der Temple erlaubte mir nicht, auf seinem Gelände zu parken, während ich wartete, also suchte ich Seitenstraßen, um dort zu parken und ein Nickerchen zu machen.

Natürlich war ich begeistert, als der Peoples Temple schließlich nach San Francisco zog, in das Kirchengebäude, das er gekauft hatte und das an der Geary Street im Fillmore lag; allein schon, weil das bedeutete, dass die nächtlichen Fahrten vorbei waren. Es bedeutete jedoch auch, dass meine Familie sich nun wirklich in die Arbeit für die Kirche stürzen konnte. Während des folgenden Jahres unternahm meine Familie an Wochenenden Busreisen nach Los Angeles, die von der Kirche organisiert wurden, zusätzlich zu den regulären Gottesdiensten. Dann fing meine Frau an, zu etwas zu gehen, das sie als ihre Security-Schicht bezeichnete. Als ich sie scherzhaft fragte, was genau sie in dieser Security-Schicht denn mache, speiste sie mich mit der Bemerkung ab, dass sie Gottes Werk tue. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was darunter zu verstehen war, aber sie nahm ihr Engagement sehr ernst, und das respektierte ich. Ich wusste, dass Betty an alles, woran sie glaubte, aus ganzem Herzen glaubte. Die Möglichkeit, dass meine Familie Geheimnisse haben könnte, die sie nicht einmal mir mitteilte, kam mir nie in den Sinn. Sie erzählten mir nie, was sich bei diesen Gottesdiensten oder Reisen abspielte, aber ich dachte mir nicht viel dabei. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine Kirche diese Form von Geheimniskrämerei verlangen oder einen Grund dafür haben konnte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich meine Frau nie die Tagesereignisse rekapitulieren hörte, weder mir noch jemand anderem gegenüber. Dasselbe galt für den Rest der Familie. Es wurde einfach nie besprochen. Sie trugen gegenüber der Kirche eine starke Loyalität und ein unverbrüchliches Engagement zur Schau. Sie hatten sich verändert ­– das konnte ich sehen – aber es war keine Veränderung, auf die man wirklich den Finger legen konnte.  Nichts Offensichtliches, sehr subtil, es war ein fast greifbares Gefühl, das das Haus und die Familie durchdrang. Dieses Gefühl war nicht beruhigend oder tröstlich, aber es war auch nicht wirklich unheilvoll. Die beste Beschreibung, die mir dafür in über dreißig Jahren eingefallen ist, lautet: unerklärlich.

Um die Sicherheit oder das Wohlergehen meiner Söhne machte ich mir nie Sorgen. Sie waren bei ihrer Mutter. Für mein Gefühl war die Kirche der sicherste Ort für ein Kind. Und sie waren immer voll Begeisterung, wenn sie zurückkamen, sie sangen und spielten. Sie waren fröhlich. Sogar später, als ich anfing, Gerüchte über Drohungen gegen Jim Jones’ Leben zu hören, und als sich herumsprach, dass sein zusehends paranoides Verhalten Argwohn erregte, vertraute ich dem Wort meiner Familie. Wenn ich sie gelegentlich nach den Anschuldigungen fragte, von denen ich  gehört hatte, beruhigten sie mich rasch. Das seien bloß die Mainstream-Medien und eine Öffentlichkeit, die die Wahrheit nicht kannte, versicherten sie mir; es gehe ihnen hervorragend und sie seien in guten Händen.

Ich hatte mein Lebtag keinen Grund gehabt, an meiner Mutter, meiner Tante oder sonst irgendjemandem aus meiner Familie zu zweifeln, und ich würde jetzt nicht damit anfangen, trotz der winzigen Knoten, die sich in meiner Magengrube zu bilden begannen. Ich rief mir in Erinnerung, dass keiner in meiner Familie sich – und erst recht nicht die Kinder – in irgendeine Art von Gefahr bringen würde, egal, aus welchem Grund. Dieser Gedanke war es, der mir half, den Knoten in meinem Magen zu betäuben.

Und dann kam Betty zu mir und wollte mit allen anderen runter nach Guyana. Ich wusste von der Gemeinde, die sie dort unten hatten, tatsächlich waren meine Tante Verdella und Onkel Walter bereits hingefahren. Er war allein zurückgekommen, sagte jedoch, es gebe keinerlei Grund zur Sorge, alles sei bestens dort. Er habe bloß wieder zurück ins Stadtleben gewollt.

Es macht jedoch einen Unterschied, ob es eine Tante und ein Onkel sind, die weggehen wollen oder die eigene Frau und die Kinder. Betty sagte mir, dass die Kirche fort müsse von der Überwachung durch die Regierung und den Vorurteilen der amerikanischen Öffentlichkeit. Wenn sie wirklich frei sein wollten, mussten sie die Chance auf dieses einmalige Erlebnis nutzen. Sie würden vielleicht höchstens ein Jahr dort verbringen; die Kinder würden jedoch ihr ganzes Leben davon profitieren. Ich wollte natürlich keine Phase der Kindheit meiner Jungs verpassen, und ich überlegte, ob es vielleicht einen Kompromiss gab. Der Ausdruck in ihren Augen ließ mich jedoch recht deutlich erkennen, was los war. Dass sie mich um Erlaubnis bat, war eine Formalität und ein Appell an mein männliches Ego. Ich malte mir aus, wie ich eines Tages nach Hause kommen und einen Zettel und leere Schränke vorfinden würde. Weil ich ihr nicht das Gefühl geben wollte, sich fortstehlen zu müssen und dann keinen Ort mehr zu haben, an den sie zurückkehren konnte, schlug ich ihr eine Abmachung vor: Sie durfte die Jungs mitnehmen und ihnen das einmalige Erlebnis bieten, aber nach einem Jahr – allerhöchstens – würden sie zurückkommen. In der Zwischenzeit würde es Besuche, Anrufe, Berichte und Fotos geben, alles, um den Kontakt mit der Familie aufrecht zu erhalten. Sie war einverstanden; dann zog sie den Zettel mit der Erlaubniserklärung hervor, die sie brauchte, damit Klein-Steve das Land verlassen durfte.

Ich versuchte höchstwahrscheinlich, meinen Alltag zu bewältigen, als ob nichts geschehen sei – mich selbst zu täuschen – und nahm deshalb in der Zeit bis hin zu und nach der Abreise meiner Familie nur wenige echte Emotionen wahr. Bevor sie wegfuhren, verbrachte ich mit den Jungs so viel Zeit, wie ich nur konnte, und ich versuchte, keine große Sache daraus zu machen; immer und immer wieder sagte ich mir, dass ich sie ja bald besuchen würde und dass das Jahr ohnehin wie im Flug vergehen würde. Ich ließ mir nichts anmerken, als ich meine Frau, meine Nichte und meinen Bruder umarmte und ihnen eine sichere Reise wünschte. Marcus und Klein-Steve wirkten so groß in ihren brandneuen, zueinander passenden Outfits. Ich könnte schwören, dass sie sich ein wenig größer machten, so, als hätten sie die Beschützerverantwortung des Familienoberhaupts in meiner Abwesenheit bereits übernommen. Ich musste im Stillen darüber lachen, aber vor allem machte es mich stolz.

Dann, einfach so, waren sie fort.

Meine Mutter war gemeinsam mit einer Handvoll anderer Familienmitglieder in San Francisco geblieben. Die Idee war, dass wir alle in nicht allzu ferner Zukunft wieder vereint sein würden. Was immer notwendig war, damit meine Familie zusammen, glücklich, gesund und – was am wichtigsten war – intakt blieb, war ich bereit zu tun.

* * * * *

Von Zeit zu Zeit erhielt ich kurze Briefe aus Guyana. Ich fand diese Briefe allesamt etwas unpersönlich, fast schon allgemein, war jedoch auch froh zu hören, dass es allen gut ging. Wenig später ergab es sich, dass ich mit meinem Onkel Walter über seine Guyana-Reise mit meiner Tante Verdella sprach; dieses Mal murmelte er jedoch, als er mir die Geschichte erzählte, plötzlich etwas von seinem Reisepass. Verwirrt fragte ich ihn, wovon er da redete. Um nach Jonestown zu kommen – nicht generell, sondern beim ersten Kontakt mit den Wachen am Eingangstor – musste man seinen Reisepass abgeben. Er hatte das schlichtweg verweigert, und weil er eine solche Szene machte, hatte man ihm widerwillig erlaubt, ihn zu behalten.

Mir wurde plötzlich körperlich übel. Diesmal versuchte ich nicht, nach außen hin tapfer zu sein. Ich fühlte mich vollkommen machtlos. Ich war wie ein verängstigtes Kind, das zwar keine Ahnung hatte, was vor sich ging, aber wusste, dass es sich in Sicherheit bringen musste, weil das Böse es sonst erwischen würde. Seltsamerweise war ich selbst in meinem verzweifelten Zustand kontrolliert genug, dafür, dass er eine so entscheidende Information weggelassen hatte, nicht auf meinen Onkel loszugehen. Ich würde gerne sagen, dass dies ein bewusster Akt des Verständnisses und der Reife war, aber das war nicht der Fall. Es war dies ein Moment in meinem Leben, der sich nicht nur auf immer in mein Gedächtnis gebrannt hat, sondern in meine Seele.

Von diesem Moment an konnte ich mir nicht mehr einreden, dass das nagende Gefühl in meinem Bauch unbegründet war. Ich habe nie geglaubt, dass der Gedankenlosigkeit meines Onkels Absicht oder irgendeine Böswilligkeit zugrunde lag. Erst vor sehr kurzer Zeit war ich erstmals imstande, auszusprechen, dass ich wirklich wütend und durcheinander war und mich fast schon betrogen fühlte. Ich wollte nie, dass irgendjemand dachte, ich würde ihm die Schuld für irgendetwas geben, denn das tat ich tatsächlich nicht. Ich habe mit dem „hätte” und “wäre doch” in meinem Herzen jahrzehntelang gelebt, ohne darüber zu sprechen. Ich glaube wirklich, dass ich, wäre mir dieses Stück Information bekannt gewesen, nie auf die Idee gekommen wäre, meine Kinder von meiner Seite zu lassen. Die Erwachsenen konnten natürlich ihre eigenen Entscheidungen treffen, ihre eigene Wahl, und ich würde sie respektieren. Aber meine unschuldigen kleinen Jungs, die bloß ein Abenteuer erleben und neue, aufregende Dinge sehen wollten? Um nichts in der Welt hätte ich so eine Zustimmungserklärung unterschrieben. Man kann zu diesem späten Zeitpunkt unmöglich wissen, was passiert wäre oder was sein hätte können. Ich weiß es bestimmt nicht, aber das war der kleine Happen Trost, an dem ich mich festhielt, wann immer sich Schuldgefühle, Schuldzuweisungen oder Verurteilung in meine Gedanken schleichen wollten.

Und während meine Seele in sich zusammenbrach, schien auch die Welt um mich herum zu explodieren. Die Medien begannen zu berichten, dass Leute, die aus Jonestown in die Staaten zurückgekehrt waren, behaupteten, Jim Jones sei ein Betrüger; dass er ein anderer Mensch geworden sei, verborgene Beweggründe habe. Sein Verhalten sei nunmehr durch Gier motiviert und von Drogenkonsum bestimmt, und er mache jetzt auch keine großen Anstalten mehr, dies zu verbergen. Die Predigten, wie er sie in der Kirche gehalten hatte, gab es nicht mehr, sie waren ersetzt worden durch Treffen der Gemeinschaft zu Plänen und Strategien, und man war ständig in der Defensive. Es gab Drill, Übungen, Bestrafungen und Tests, und aus damals unbekannten Gründen schienen die verbleibenden Mitglieder nur allzu bereit zu sein, ihn gewähren zu lassen. .  Obwohl ihre Loyalität anfangen mochte zu wanken, waren sie nach wie vor fest entschlossen, ihre Hingabe an diesen Mann und an die Sache, wie er sie definierte, unter Beweis zu stellen.

Die Presse berichtete auch darüber, dass die Regierung sich nun eingehender mit den Finanzen der Kirche befasste, und je mehr die Regierung untersuchte, desto mehr Fragen tauchten auf. Gleichzeitig schien San Francisco in sein eigenes politisches Chaos zu stürzen, was – je nachdem, wen man fragte – entweder mit Jim Jones und dem Peoples Temple zu tun hatte oder nicht. Alles, was ich wusste, war, dass die ganze Stadt nervös war. Die Stimmung war geprägt von Unsicherheit und Sorge.

Klein-Steves vierter Geburtstag stand bevor, und ich beschloss, dass ich ihn sehen musste. Ich versuchte, meine nächsten Schritte zu planen, wie ich von der Arbeit wegkommen konnte, wie ich einen Flug außer Landes bekommen konnte. Die Sache mit den Wachen am Eingangstor, an denen man vorbei musste, schreckte mich keine Sekunde lang ab. Ich hatte Kinder, die zurück mussten in die Sicherheit des einzigen Zuhauses, das sie kannten. Ich verfluchte mich dafür, dass ich, als ich Betty mein Okay gegeben hatte, nicht an Dinge wie Ferien gedacht hatte. Es war einer dieser Momente, in denen man Stimmen im Hinterkopf hört, die einen ständig fragen: was hast du getan, was hast du getan? Es waren laute, wütende, anklagende Stimmen, die mich nicht in Ruhe lassen wollten. Ich funktionierte zu jener Zeit in einem extrem primitiven Überlebensmodus.

Ich habe wenig Erinnerung daran, was genau ich zu jener Zeit tat. Ich weiß nicht, ob das so ist, weil mein Gehirn versucht, mich vor diesen Erinnerungen zu schützen, oder ob es solche Details als unnötig erachtet hatte und bloß die grundlegenden, allerwichtigsten Informationen speichern konnte.

Aber was auch immer der Grund sein mag, ich bin nicht in der Lage, über die Schritte, die ich setzte, während ich Vorbereitungen traf, um meine Jungs nach Hause zu holen, Rechenschaft abzulegen. Dankenswerterweise hielt meine Mutter mich über alle Berichte, die sie den Nachrichten entnehmen konnte, auf dem Laufenden, und als ich hörte, dass unser Kongressabgeordneter Leo Ryan unterwegs nach Guyana war, um festzustellen, was dort wirklich los war, spürte ich, wie eine riesige Welle der Erleichterung meinen Körper durchflutete. Der ganze Stress der letzten Zeit und das Adrenalin, das meinen Autopiloten am Laufen gehalten hatte, flossen aus mir heraus. Ich fing wieder zu hoffen an, zu glauben, dass ich nicht wirklich an der Schwelle zu einem Alptraum stand. Ich musste beinahe laut lachen – gewiss aus Wahnsinn –und ich dachte, wie dumm ich doch gewesen war, so zu überreagieren und das Schlimmste anzunehmen. Wenn Betty wieder zuhause war, würde sie die Vorstellung, dass ich wie ein Irrer durch die Stadt gelaufen war und davon gebrabbelt hatte, nach Südamerika zu gehen, sicher zum Schreien komisch finden. Tränen liefen mir übers Gesicht, während ich den aufgestauten und – wie ich glaubte – aus Einbildung entstandenen Emotionen freien Lauf ließ. Ich saß vor dem Fernseher, um hinsichtlich sämtlicher Neuigkeiten zum Besuch des Kongressabgeordneten auf dem Laufenden zu bleiben. Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, mir die Möglichkeit vorzustellen, im Fernsehen meine Kinder oder meine Frau zu erspähen, wie sie mir zuwinkten, während sie das Flugzeug bestiegen, in dem sie mit Ryan nach Hause zurückkehren würden. Während ich zuließ, dass die Erschöpfung mich übermannte, überkam mich ein Gefühl der Ganzheit und des Geliebt-Werdens, ich konnte die Gegenwart meiner Familie spüren. Es währte nur einen kurzen Moment lang, aber es war da. Sie würden nach Hause kommen, wird hatten einen Geburtstag zu planen, und bald kam die Urlaubszeit. Oh ja, wir hatten eine Menge an Planungsarbeit vor uns, aber ich würde dafür sorgen, dass wir uns an die Ferien dieses Jahres noch unser ganzes Leben lang erinnern würden. Mit diesem Gedanken im Kopf fiel ich in einen dringend benötigten, beinahe komatösen Schlaf.

* * * * *

Von Anfang an wurde der Name Jim Jones in unserer Gemeinschaft geflüstert, als sei er ein Geheimnis. Jahrelang würden Leute mich fragen, warum ich dem Peoples Temple nicht beigetreten war. Ohne meine Antwort abzuwarten, würden sie mir dann mitteilen, dass ich Glück gehabt hätte, dass es intelligent von mir gewesen sei, nicht beizutreten, dass ich gesegnet sein oder einen sechsten Sinn gehabt haben müsse, dass jemand auf mich aufpasste. Ich weiß, dass sie es gut meinen, aber derlei als Komplimente maskierte Aussagen sind sehr grausam und schmerzhaft. Die Menschen, die Jim Jones folgten – auch meine eigene Familie – waren Menschen, die aus sich das Beste machen wollten. Sie wollten dazu beitragen, etwas Positives zu hinterlassen. Sie wollten frei, glücklich und geliebt sein und das Gefühl haben, Teil von etwas zu sein, das größer war als sie selbst. Es ging ihnen dabei nie um Geld, Macht oder Rasse. „Sekte“, „Gehirnwäsche“, “Schachfiguren” sind keine Wörter, die jemand verwenden würde, der meine Familie außerhalb des Temples kennengelernt hat. Wie alle Familien, die Jim Jones folgten, mögen sie hinsichtlich der Dinge, die in der Kirche vor sich gingen, blind oder naiv gewesen sein, aber sie waren weder ungebildet noch dumm noch psychisch gestört.

Es hat einen erheblichen Teil meines Erwachsenendaseins gebraucht, bis ich fähig war, diese Tragödie und Erinnerung aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ich glaube, dass meine Familie – wie so viele andere – tapfer genug war, ihr eigenes Dasein zu entwurzeln, jedes Stück Sicherheit, an das sie ihr ganzes Leben lang gewöhnt waren, aufzugeben für das, woran sie glaubten. Die Menschen, die nicht bloß redeten, sondern vielmehr gemäß ihren Überzeugungen handelten – das waren sie. Ich werde vielleicht nie erfahren, was da unten im Dschungel von Guyana vor sich ging, oder wer welchen Masterplan ersonnen hat. Es mag mir nicht zustehen, das zu wissen. Bei Gott, ich wünschte, es wäre die Erfüllung ihrer Gebete gewesen, so wie sie es geglaubt hatten. Ich stelle mir gern vor, dass es bloß ein Sprungbrett dorthin war, wo sie jetzt in Frieden ruhen. Die Jungs sind immer noch genauso liebevoll und gut, nichts Schweres oder Böses ist in ihren Herzen. Ich weiß, dass sie auf ihre Mutter aufpassen, weil sie immer nur das Beste für sie wollte, genauso wie ich.