Wie ich den Peoples Temple verließ

[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.]

Den Temple zu verlassen war keine schwere Entscheidung, auch wenn das Wann und Wie eine Herausforderung darstellten. Ich fühlte mich nicht sicher dabei, das Thema anzusprechen, nicht einmal im engsten Familien- und Freundeskreis. Das Umfeld war so durch und durch paranoid geworden, dass man nicht wusste, wem man trauen konnte. Freunde, die früher engste Vertraute gewesen waren, waren nicht mehr in der Lage, Pläne, die man ihnen anvertraute, für sich zu behalten. Also versteckte ich mein Innenleben immer mehr. Ich stellte fest, dass jeder Kommentar, der nicht außerordentlich positiv war, als gegen den Temple gerichtet interpretiert wurde. Einige wenige von uns sprachen aus, was sie dachten und waren sich einig darüber, was falsch lief, aber das blieb in unserem kleinen Kreis, wir trugen es nicht nach außen. Wir waren jung, minderjährig, und die Leute, unter deren Aufsicht wir waren, entschieden über unsere Lebensumstände; also lernten wir, uns nicht in die Karten schauen zu lassen.

Ich hatte bei der Familie Bogue gewohnt, und das Leben in deren Zuhause war wundervoll. Das war es wirklich. Erst, als ich dieses Zuhause verlassen musste, wurden die Dinge unerträglich. Nachdem Jim Bogue nach Jonestown gegangen war, wollte ich nicht mehr wirklich in Redwood Valley leben, also ging ich zurück nach Hause, nach San Francisco. Kaum war ich dort, traf ich mich mit Leuten, die nicht im Temple waren und begann, auf Distanz zu gehen.

Toni James war meine beste Freundin, eine, der ich mich anvertrauen konnte. Ich teilte ihr viele meiner Bedenken mit. Einmal fragte sie mich, warum ich dem Temple gegenüber so negativ sei; Jim Jones habe gesagt, wenn man sich negative Dinge “ausmale”, bedeute dies wahrscheinlich, dass man sie anderen wünsche. Ich werde das nie vergessen, denn ich wurde wütend und fragte sie, warum ich denn Menschen, die ich liebte, etwas Schlimmes wünschen sollte? Sie und ich sprachen oft über die Filme, die aus Jonestown geschickt wurden, und ich sagte immer, dass dort irgendetwas nicht stimmte. Es gefiel mir nicht, wie die Leute aussahen. Sie sahen aus, als hätten sie Sonnenbrand, und zwar alle, ob sie nun schwarz waren oder weiß. Meine Freundin Willieater Thomas war sehr dunkelhäutig, und sogar sie wirkte auf mich sonnenverbrannt. Ich erinnere mich, wie ich das zu Toni sagte und sie erwiderte, das sei eben die “Dschungel”-Sonne. Ich sagte, mir ist egal, welche Sonne das ist. Willieater sah sonnenverbrannt aus, und die einzige Erklärung dafür war, dass sie zu lange in der Sonne war.

Ich hatte ein Problem damit, dass alle nur Gutes über Jonestown zu berichten wussten. Es fing immer mit dem Essen an, und wie gut es sei. Die Luft war “gut”, der Regen war “mild”, und die Arbeit machte “Spaß”. Wie bitte? Erzählt das eurer Großmutter! Jemand anderem hätte ich das vielleicht abgekauft, aber dass es meine Freunde waren, die dieses lächerliche Lob der Arbeit sangen, machte mich stutzig. Leute, von denen ich genau wusste, dass ihnen Arbeit noch nie “Spaß” gemacht hatte, logen, dass sich die Balken bogen, und das merkte ich.

Die größten Sorgen machte mir, dass ich meine Schwester, Darlene Ramey, niemals in einem der Filme sah, und dass sie mir niemals schrieb. Im Frühjahr 1978 hatte sie dort drüben ein Kind bekommen, aber sie schrieb weder Mama, um ihr von der Geburt zu erzählen, noch sonst jemandem aus der Familie. Wir hatten keine Ahnung, was los war. Wann immer ich nachfragte, bei irgendjemandem in den Staaten oder in  Briefen nach Jonestown, wurde alles, was Darlene betraf, ausgespart. Es war, als sei sie verschwunden, und das sagte ich zu Toni. Sie fand ebenfalls, dass die Sache mit Darlene sehr sonderbar war, weil sie wusste, wie eng wir miteinander waren. Selbst Toni fand, dass ihr das überhaupt nicht ähnlich sah.

* * * * *

Im Winter 1976 wurde ich im Alter von 17 Jahren schwanger, von einem jungen Mann, der ein ehemaliges Mitglied des Tempels war. Ich sah darin eine Chance, San Francisco zu verlassen und zu meiner Familie nach Los Angeles zu ziehen. Mehrmals wurde mir nahegelegt, nach Jonestown zu gehen, um mein Kind dort auf die Welt zu bringen, und jedes Mal lehnte ich ab. Als das Kind geboren war, zogen Toni und ich gemeinsam in eine Wohnung, die dem Tempel gehörte. Ich wohnte dort gleich gegenüber von Mary Pearl Willis, die sich sofort in mein Baby verliebte. Sie kam immer rüber, um mit ihm zu spielen, und wenn sie mit ihrer Tochter Brenda irgendwo hin ging, erlaubte ich ihr, es mitzunehmen. Oft sagte sie zu mir, ich dürfe nicht nach Jonestown gehen und ihr mein Baby wegnehmen – weswegen ich schockiert war, als sie später selbst nach Jonestown ging. Sie hatte mir nie den Eindruck vermittelt, dass sie dort leben wollte.

Allein zu leben war für uns etwas Neues, und ich nahm Toni auf zahlreiche Ausflüge außerhalb des Tempels mit. Oft schwänzten wir Messen, um ins Kino zu gehen oder in ein Restaurant. Wir kauften Kassetten und hörten jede Menge Musik. Einer der Berater rief Toni schließlich zu sich und sagte ihr, dass ich ein schlechter Einfluss für sie sei und sie aufhören solle, soviel “Umgang” mit mir zu haben. Ernsthaft? Wie soll denn jemand mit seiner Zimmergenossin keinen “Umgang” haben?

Toni und ich hatten unsere Pässe bekommen, und es wurde uns mitgeteilt, dass wir im August 1978 nach Jonestown sollten. Unsere Koffer und Seesäcke waren gepackt, wir waren bereit für die Abreise. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, aber wir fingen an zu besprechen, was passieren würde, falls wir nicht gleichzeitig reisten. Ich hatte einfach so ein Bauchgefühl, dass irgendetwas unsere Wege trennen würde. Falls das passierte, sagte ich zu Toni, sollte jene von uns, die zuerst hinfuhr, die andere warnen, falls dort etwas nicht in Ordnung war. Wir wussten, dass die Post wahrscheinlich zensiert wurde, also einigten wir uns darauf, einen geheimen Satz zu verwenden. Diesen Satz würden wir genau in die Mitte des Blattes schreiben, und er würde lauten: “Ich weiß, ich hätte lieber heiraten sollen, bevor ich hierher kam.” Es war ein Scherz zwischen einigen von uns jüngeren Leuten, dass, wer einen Partner wollte, ihn besser selbst mitbrachte, denn kaum waren sie in Jonestown, waren offenbar alle unsere Freude verheiratet. Wir versprachen einander, die jeweils andere nicht in eine gefährliche Umgebung nachkommen zu lassen.

Genau, wie ich es mir gedacht hatte, klopfte es etwa einen Monat später, als wir um circa fünf Uhr früh noch im Bett lagen, an unsere Tür. Toni stand auf und öffnete, und da standen zwei Berater und Jim McElvane. Sie sagten, Toni solle nach draußen kommen, um mit ihnen zu sprechen, und als sie zurückkam, wirkte sie traurig. Sie sagte, sie würde heute nach Jonestown aufbrechen. Ich war eher wütend als  überrascht. Ich fand es völlig unangemessen, jemanden am Tag der Abreise zu wecken und ihn damit zu überrumpeln. Man hatte Toni gesagt, dass sie niemandem davon erzählen dürfe, aber natürlich erzählte sie es mir. Ihre kleine Schwester war gerade bei uns, sie war gekommen, um das Wochenende mit uns zu verbringen, also weckte ich sie und sagte ihr, dass Toni fortging und es keinem erzählen würde. Ich erinnere mich, wie ich Toni zu überreden versuchte, ihre Großmutter anzurufen, bei der sie aufgewachsen war. Mir ist klar, dass ich ihr damit Schuldgefühle machte, aber ich war wütend. Schließlich rief Tonis Schwester die Großmutter an, und dann war die Hölle los. Tonis Familie rief bei den Tempelberatern an, um ihnen kräftig die Meinung zu geigen. Die Berater kamen zurück, schimpften mit Toni wegen der Anrufe, sagten, dass dieses ganze Chaos jetzt ihre Schuld sei, und dass all das nicht passiert wäre, wenn sie auf sie gehört hätte. Ich erinnere mich, dass ich fragte, warum ihre Familie denn kein Recht habe, davon zu erfahren, bekam jedoch keine Antwort.

Tonis Großmutter fuhr sie am Telefon schroff an und legte dann auf. Ich sehe immer noch Tonis Gesichtsausdruck vor mir, während sie den Hörer auf die Gabel zurücklegte: traurig, verängstigt, gebrochen. Nach ungefähr dreißig Minuten rief ihre Großmutter erneut an und entschuldigte sich. Sie sagte, dass sie verletzt sei, das Gesagte aber zurücknehmen wolle, weil sie nicht wollte, dass die letzten Worte von ihr, an die Toni sich erinnern werde, schroff waren. Toni sagte: “Ich werde dich wiedersehen, Großmutter”, und erhielt zur Antwort, “Ja, das wirst du, aber nicht in diesem Leben. Wenn du nach Jonestown gehst, werde ich dich nicht lebend wiedersehen.” Toni weinte und sagte, doch, das würde sie, aber ihre Großmutter nahm nicht zurück, was sie gesagt hatte. Sie sagte ihr, sie solle vorbeikommen und sich etwas Geld holen für Dinge, die sie brauchte, aber Toni sagte, sie habe niemanden, der sie fahren konnte. Ich brüllte, dass ich ihr eine Fahrgelegenheit besorgen würde, aber das lehnte sie ab.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals so heftig geweint zu haben wie an dem Tag, als Toni fortging. Die Berater sagten, ich solle nicht traurig sein, ich würde sie ja in zwei Wochen wiedersehen, aber ich hatte das Gefühl, mich wirklich von ihr zu verabschieden. Die folgenden zwei Wochen waren hart, meine Freundin fehlte mir. Toni kam im Juni 1978 in Guyana an. Ihre ersten Briefe waren genau wie die aller anderen, sie bestand jedoch darauf, dass, was sie erzählte, wirklich wahr war. Sie schrieb sogar über Dinge, die ihr nicht gefielen. Weil sie noch in Georgetown war, blieb ich skeptisch; ich wartete darauf zu erfahren, wie es in Jonestown sein würde.

Am Tag vor meiner geplanten Abreise ging ich zu meiner Familie, um dort zu übernachten. Sie alle sagten, ich sollte nicht gehen, und den ganzen Abend über versteckte ich meine  bösen Vorahnungen. Ich ging zu Bett und wachte auf von etwas, das ich für einen Traum hielt. In diesem Traum war ich in Jonestown, aber mein Baby war zuhause bei meiner Familie in den Staaten. Ich erinnere mich, dass ich meine Schwester sah und Toni, und daran, wie glücklich ich war, sie wiederzusehen. Sie fragten, ob ich mitkommen wolle zum Volleyball spielen mit unseren Freunden, und ich sagte ja. Wir lachten und spielten, wie wir es immer getan hatten, den ganzen Nachmittag lang, und als es allmählich Abend wurde, ertönte plötzlich ein langer und lauter Sirenenton. Toni, Darlene und alle unsere Freunde erstarrten, wandten sich nach links und gingen weg. Ich winkte ihnen zum Abschied zu und ging nach rechts weg. Aus dem Nichts tauchten plötzlich gesichtslose Wachposten auf und richteten eine Waffe auf mich. Einer fragte mich, wo ich hin wollte, und ich gab ihm ruhig zur Antwort: “Ich wollte nie hierher kommen, ich habe mein Baby zuhause gelassen und muss zurück.” Er lachte und sagte, ich würde nirgendwo hingehen. Ich begann zu schreien. “Ich wollte nie hierher kommen.” schrie ich immer und immer wieder. Ich wurde in die Mitte eines Kreises aus Hunden gezerrt, und wenn ich nur einen Schritt aus dieser Mitte heraus machte, würden diese Hunde wütend auf mich losgehen. Bis heute spüre ich die Panik und das Entsetzen, als ich schrie: “Ich wollte nie hierher kommen!“ Ich erwachte mit Schüttelfrost  und rief Tonis Großmutter an. Sie sagte, das sei nicht bloß ein Traum gewesen, sondern Gott habe mir eine Vision geschickt; und wenn ich nach Jonestown ginge, sei ich eine Närrin.

Mein Bruder und seine Freundin brachten mich zurück zu meiner Wohnung, wo ich mir die Sachen schnappte, die ich brauchte und den Rest aus dem Fenster im dritten Stock warf, in einen Müllcontainer, der darunter stand. Während ich fieberhaft mein Zimmer räumte, klopfte plötzlich Jim McElvane an die Tür und fragte, ob bei mir alles in Ordnung sei. Ich sagte ja, und dass ich gerade die Sachen holte, die ich bei meinem Vater lassen würde, und gleich wieder zurückkäme. Er sagte, wir würden am Abend vom Flughafen in LA aufbrechen, um eine Gruppe in San Francisco zu treffen und von dort aus an die Ostküste zu reisen. Ich lächelte und tat, als könne ich es kaum erwarten. Ich sagte, ich hätte meine kleine Tochter bei meinem Vater gelassen und würde mit ihr zurückkommen. Er nannte mir eine Check-in-Zeit und ging weg. Ich nahm alles mit, worauf die Adressen meiner Familienmitglieder zu finden waren und ging fort, ohne mich noch einmal umzudrehen. Mein Entschluss stand fest: ich würde nicht nach Jonestown gehen.

Ich versteckte mich bei Familienmitgliedern und bettelte Tonis Schwester an, niemandem zu verraten, wo ich war. Sie war die einzige aus dem Tempel, die es wusste. Sie rief oft an, um mir zu erzählen, wie sie wegen meines Verbleibs in die Mangel genommen wurde. Ich weiß noch, wie ich sie anflehte: “Lass sie einfach nur ohne mich wegfahren, und dann brauchst du mich nicht mehr zu decken.” Ich fühlte mich schlecht wegen der Gefahr, in die ich sie möglicherweise gebracht hatte, aber es tat mir nie Leid, dass ich mich entschlossen hatte, den Tempel zu verlassen. Nach ein paar Wochen wurde es schließlich ruhiger, und ich hörte auf, mich zu fürchten. Ich versteckte mich nach wie vor, weil ich mein Baby beschützen wollte, aber mein Entschluss stand fest: Ich würde nie mehr zurückkehren.

Toni schickte einen Brief an die Adresse meines Vaters, in dem stand, dass sie mittlerweile in Jonestown angekommen war. Sie erzählte, wie es unseren Freunden ging, und genau in die Mitte des Blatts schrieb sie groß und deutlich: “Ich weiß, ich hätte lieber heiraten sollen, bevor ich hierher kam.” Mir lief es buchstäblich kalt über den Rücken. Ich rief ihre Familie an, die unverzüglich versuchte, einzuschreiten und bis zum Tag der Tragödie aktiv daran arbeitete, sie nach Hause zu holen.

Es gibt so vieles, was ich über die Ereignisse sagen könnte, die zu meiner Entscheidung geführt haben, den Tempel zu verlassen; ebenso darüber, was danach geschah, und ich hoffe inständig, dass ich es eines Tages zum Ausdruck bringen kann. Es gibt so viele andere, deren Geschichten sich von der meinen nur wenig unterscheiden. Viele Jahre hindurch hatte ich mit Schuldgefühlen zu kämpfen, weil ich immer das Gefühl hatte, dass ich mich nicht heftig genug darum bemüht hatte, sie an ihrer Abreise zu hindern. Ich finde nach und nach meinen Frieden mit den Entscheidungen, die wir vor Jahrzehnten gemacht haben, und ich bete, dass andere das ebenfalls tun.

Anm. der Übersetzerin: Toni James, Willeater Thomas, Darlene Ramey, Mary Pearl Willis und Jim McElvane starben in Jonestown. Mary Pearls Tochter Brenda blieb in den Staaten und überlebte. Jim Bogue verließ Jonestown am Tag der Tragödie.