Showtime

[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.]

Die Musik verklingt, das Klatschen wird schwächer, und die Leute sehen uns an. Alle einhundert plus. Ich halte Ollies Hand und warte. Jones fing an, Namen zu nennen. Mann, ich kann das verdammt noch mal nicht glauben. Ich dachte, das hätte schon in den Staaten aufhören sollen. Keine Disziplinierungen mehr, zumindest nicht öffentlich.

Ich bin in einer schwierigen Lage. Meine Mom ist zu sehr akklimatisiert, Ollie ist achteinhalb Monate schwanger, ich habe keine Karte, keinen Kompass, keinen Reisepass, kein Geld. Immerhin, ich habe ein Taschenmesser… und die Gegebenheiten der Situation sind mir gerade tief, sehr tief ins Bewusstsein gedrungen. Erstmal alles abwägen. Oh-oh. Jones redet sich in Fahrt. Er setzt an zu seiner (ICH WILL JETZT MAL KLARTEXT MIT EUCH REDEN) Rede.

Was wir hier haben, ist ein eigentümlicher Augenblick. Es ist dieser Kampf-oder-Flucht-Moment, jener Moment, in dem sich alles in dir wie Gummi anfühlt Adrenalin schießt ein die Beine zucken Tunnelblick setzt ein du kannst alles um dich herum hören und spüren.

Meine Handflächen schwitzen. Ollie sagt, ich halte ihre Hand zu fest, es tut weh. Ich lasse sofort los. Ich fange an, mit Blicken den Pavillon  abzusuchen, ohne eine Ahnung zu haben, wonach ich Ausschau halte.

Drei Männer und deren Frauen und Kinder stehen vor dem Publikum. Jones tadelt die jungen Männer wegen ihrer Verfehlungen während des Bus-Trips quer durch die USA, von San Francisco nach Florida, sowie weiterer Eskapaden in Georgetown, Guyana. Ich will ihre Namen hier nicht nennen. Sie alle sind tot und können sich nicht verteidigen. Welche Fehler sie auch gemacht haben mögen, es waren und sind harmlose Fehler, verglichen mit dem Preis, den sie dafür zu zahlen haben werden. Dem Preis, den wir alle zu zahlen hatten.

Zwei der Männer müssen die nächsten vierundzwanzig Stunden durcharbeiten. Der dritte brachte Jones wirklich in Rage, ihm wird von einigen der Wachposten der Arsch versohlt.

Jones setzt fort, indem er uns mitteilt, dass sich ein Spion unter uns befinde, und dass alle Tonbandkassetten unverzüglich konfisziert werden. Was? Blödsinn!

Das war nun echt ein beschissenes Problem. Ich hatte dreihundertfünfundsechzig Neunzig-Minuten-Kassetten in meinem Seesack. Ich würde nicht in die USA zurückkehren. Ich brauchte meine Musik.

Und überhaupt, was soll dieser Schwachsinn über einen Spion? Wer würde so etwas wagen?

Jetzt bin ich paranoid. Angeblich sollte der Spion Informationen mittels einer Musikkassette überbringen. Die nächsten paar Stunden: Paranoia, Vaterlandsverteidigung, Aufspüren des mutmaßlichen Spions.  Dann, zur Krönung des Abends, düstere Warnungen und Erläuterungen von Jones.

  1. Er habe bereits einen Spion erwischt.
  2. Der Spion werde in einer Kiste im Bananenkeller festgehalten.
  3. Seid ganz still, wenn ihr an der Kiste vorbeigeht, in der er gefangen gehalten wird.
  4. Das war nötig!

An diesem Punkt reicht es mir endgültig, Reizüberflutung. Es ist nicht zu Ende für mich. Eine WEISSE NACHT wird ausgerufen. Was zum Teufel ist eine WEISSE NACHT? Männer laufen herum wieder macht sich Hektik breit man sagt den Leuten sie sollen Ruhe bewahren. Von der Bühne aus teilt Jones uns mit, wenn sie kommen, um einen von uns zu holen, könnten sie ebenso gut kommen, um uns alle zu holen. Er weist alle an, zu singen und zu schreien, so laut wir nur können.

So habe ich mir das nicht vorgestellt. Das Leben meiner Familie ist in Gefahr und es gibt wenig, falls überhaupt etwas, das ich tun könnte, um die Lage zu ändern. Unsere Feinde sind im Dschungel. Ihre Absicht ist, uns umzubringen. Meine Freunde sind zu vierundzwanzig Stunden durchgehender Arbeit verdonnert worden. Ich habe meine erste Jonestown-Arschversohlung gesehen, wir haben eine WEISSE NACHT, werden angegriffen, meine Frau ist achteinhalb Monate schwanger, wir sind mitten in einem Dschungel, der so dunkel ist, dass ich ihn nicht sehen kann, ich habe keinen Ausstiegsplan. Wo ist eigentlich der Ausgang? Ich habe keine Ahnung, wer Freund ist und wer Feind…

Immerhin, ich habe ein Taschenmesser.

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Eugene Smith befand sich am 18. November 1978 auf einem Arbeitseinsatz in Georgetown. Seine Mutter, seine Ehefrau Ollie und sein neugeborener Sohn starben in Jonestown. – Ein Interview mit Eugene Smith findet sich in Leigh Fondakowski, „Stories from Jonestown“, University of Minnesota Press, 2013. Im Jahr 2015 nahm Smith an einer Diskussionsrunde der California Historical Society teil. Anm. d. Ü.