[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.]
An dem Abend, als meine Welt starb, ging ich ins Kino. Das Jonestown Basketball-Team war für ein Trainingsspiel mit der Guyanischen Nationalmannschaft in der Stadt; wir hatten uns den Tag freigenommen und waren zum Abschluss unserer Erholungspause in ein Lichtspieltheater in Georgetown gegangen, einem Raum, der ohne Publikum leblos war. Feucht war es dort und trostlos. Die Zeit zwischen den Vorführungen wurde offenbar eher zum Instandhalten des Films und der Kamera genützt als zum Saubermachen. Wir besetzten einen Teil der vorderen drei Reihen eines kleinen Balkons, dessen letzte vernünftige Reparatur Jahrzehnte zurückliegen musste. Wie so oft saß ich hinter den anderen; ich fühlte mich wie ins oberste Regal eines Wandschranks gestopft. Der Film handelte von Auftragskillern. Der einzige Grund, warum ich aus unserer jämmerlichen Auswahl gerade diesen gewählt hatte, war, dass John Saxon darin spielte, ein Schauspieler, den ich aus Der Mann mit der Todeskralle kannte, meinem Lieblings-Bruce Lee-Film.
Unser Hiersein erfüllte mich mit Schwindel- und Schuldgefühlen. Wir waren alle ein wenig high davon, ungefähr das Gegenteil dessen zu tun, was Dad unserer Ansicht nach in jener “Krisenzeit” von uns gewollt hätte. Ich fühlte mich wie ein Pariah unter Außenseitern. Nicht bloß wegen der “wir gegen sie”- Mentalität, die unser Temple-Denken verdüsterte, sondern, weil ich weiß war in einer schwarzen Welt. In unserem Heimatland hatten wir uns bereits fremd genug gefühlt, und erst recht in jenem unterdrückten, in dem wir uns jetzt befanden. Ich war überzeugt, dass jeder in mir einen hässlichen, rassistischen Amerikaner sah; allerdings war es irrelevant, warum genau ich „gehasst“ wurde. Wo oder bei wem ich mich befand, spielte in Wirklichkeit keine Rolle: Ich fand immer einen Grund, mich als Außenseiter zu fühlen.
Die Musik setzte ein. In Georgetown wurde vor jedem Film ein lokaler Werbespot an die Leinwand geworfen, begleitet von mitreißender Soul-Musik, stets unterlegt mit einer kräftigen Dosis Marvin Gaye. “Let’s Get it On” war bei den Guyanern unglaublich beliebt. Mit Hilfe seiner temperamentvollen karibischen Begleiter gelang es Marvin, den Ort zu verändern. Aus Leibeskräften summten und sangen sie mit, und das alte Holz knarzte unter ihren rhythmischen Bewegungen. “If the spirit moves ya, let me groove ya… Let your love come dOWnnn.”
So viele waren es an jenem Abend, dass der Künstler selbst kaum zu hören war. Und es war gut so. Es war dieselbe Schwingung, die mich im Tempel in den Staaten so oft mitgerissen hatte, und sie tat es auch jetzt. Als die Musik endete und das Licht auf irgendeine Weise gedämpft wurde, war ich mir weniger meiner selbst bewusst als meiner Umgebung, und mir gefiel, was ich da sah und spürte. Der zerschlissene Zustand des Theaters war nun nicht die Fäulnis der Verwahrlosung, sondern das Resultat fröhlichen Feierns. Der Dreck, der sich wie menschlicher Ruß angefühlt hatte, und die erstickende Hitze waren nun wie tausend Mäntel, gemacht aus dem Geruch, dem Dampf und der Glut puren Lebens. Ich stieß gerade so viel Müll beiseite, dass meine Füße nichts Klebriges berühren mussten, ließ mich in meinen Sitz gleiten und schmiegte Rücken und Schultern in den weichen, zerrissenen Stoff.
Ich beobachtete meine Teamkameraden – dreidimensionale Schatten vor der nervös flimmernden, ramponierten Leinwand. Sie verhielten sich wie alte Freunde bei einem mitternächtlichen Zusammensein auf einer Terrasse der einzigen Nachbarschaft, die sie kannten. Ihre lässige Vertrautheit zeigte mir, dass sie sich wohlfühlten, dass sie mit ihren inneren Brüdern die Außenwelt genossen. Meine Schultern lockerten sich noch mehr. Es ging mir gut. Wir würden in unserer Rebellion für einander da sein.
Beinahe schon seit unserer Ankunft in Georgetown hatten wir uns der Temple-Ordnung – falls es so etwas tatsächlich gab – widersetzt; wir hatten Befehle ungeniert ignoriert und außer Kraft gesetzt. Wir waren nur deshalb noch in der Stadt, weil ich – als Sprecher für das Team – Dads Anweisung, direkt nach Jonestown zurückzukehren, schlicht verweigert hatte. Es ging darum, jede Art von Zwischenfall mit dem Kongressabgeordneten Ryan und den Besorgten Angehörigen zu vermeiden – letztere hatten wir vor Kurzem besucht, unmittelbar, nachdem wir Befehl erhalten hatten, ihnen so fern wie nur möglich zu bleiben. Ich dachte damals nicht viel nach über die Gedankengänge hinter Dads beschwörender Stimme, die, entstellt durch das Funkgerät in Jonestown, verzerrt von ihrer Reise durch zweihundert Meilen Dschungel, vom Temple-Funkgerät in Georgetown wieder zusammengesetzt wurde. Ich ging davon aus, dass die Pläne, die er für uns zuhause in Jonestown hatte, schlimmer wären als was wir gerade taten. Selbst als Mom sich einschaltete und uns halbherzig bat, doch auf Dad zu hören und in unsere Dschungelheimat zurückzukehren, gab ich zur Antwort: “Du brauchst nicht für ihn zu sprechen.“ (Jahre später sollte ich von Mike Carter, dem dortigen Funker – der Jonestown auf einer Mission für meinen Vater entkam – erfahren, dass ich damit genau ins Schwarze getroffen hatte. Meine Bemerkung versetzte Dad in einen Zustand der Rage, der einem epileptischen Anfall glich. Ich genoss diese Vorstellung jahrelang.)
Obwohl wir nicht dort sein wollten, war es doch eine riesige Erleichterung gewesen zu erfahren, dass Ryans Besuch gut verlief. Mir wurde fast schwindlig, so erleichtert war ich zu hören, dass Ryan gefiel, was er in Jonestown gesehen hatte. Nach einem Abend mit Speisen und Festivitäten, wie sie den Bürgern von Jonestown fremd waren und die nur zwecks Beeindruckung ihrer ungebetenen Gäste dargeboten wurden, betrat Ryan die Bühne und sagte, für ihn sehe es so aus, als seien hier “eine Menge Leute, die finden, das hier ist das Beste, was ihnen in ihrem ganzen Leben passiert ist.” Nach dem routinemäßig folgenden tosenden Applaus sagte er, wie sehr er sich wünsche, sein begeistertes Publikum könne geschlossen in seinem Distrikt wählen. Dem war ein scherzhaftes Geplänkel zwischen Ryan und Jack Beam gefolgt, man hatte überlegt, wie das bewerkstelligt werden könne. Sodann setzte sich der Kongressabgeordnete, und das Unterhaltungsprogramm wurde mit weniger Anspannung und mehr Feierstimmung dahinter fortgesetzt.
In freudiger Aufregung antworteten wir mit unseren eigenen guten Nachrichten. Mit unserem aggressiven Pausenhofstil hatten wir Basketball gegen die guyanische Nationalmannschaft gespielt und um nur zehn Punkte verloren. Wir hatten zugepackt, gehalten und gestoßen und sie mit unserer eigenen Verwirrung verwirrt, während wir den Korb mit einem Eifer attackierten, den sie sowohl zu genießen als auch zu verachten schienen. Ich hatte persönlich ihren besten Goalgetter jedes Mal unglücklich gemacht, wenn er in die Nähe des Korbs kam. Als wir von unserem ersten Spiel mit dem guyanischen Nationalteam weggingen, fühlten wir uns ein bisschen mehr wie Männer.
Die Neuigkeiten wurden an Dad weitergegeben. In seinem Kopf wurden wir zu um-zehn-Punkte–Gewinnern, wie er dramatisch über den Lautsprecher verkündete. Durch den Funk war zu hören, wie er die Stimmung damit anheizte und weiter aufputschte; dem folgte der freudige Jubel einer Menge, die Erleichterung selbst dringend nötig hatte. Sie wollten, dass es wahr war, und Dad wusste das. Und in dem Moment, als wir ihren Jubel hörten, wollten wir, dass es wahr war. Wir nahmen das in unseren spontanen Urlaubstag und den darauf folgenden Kinoabend mit: Unsere Leute wussten von unserem Erfolg, und die Krise des Ryan-Besuchs war vorbei.
Aber wir konnten einfach nicht mehr. Einmal zu oft hatte Dad uns alle an den Rand des Irrsinns getrieben. Es war an der Zeit, das Wartespiel zu beenden – das Warten auf den richtigen Grund und den richtigen Zeitpunkt, um sich gegen ihn zu erheben; das Warten darauf, dass seine wichtigsten Unterstützer endlich aufwachten; das Warten darauf, dass er zum Führen zu krank, zu ausgelaugt sein würde; das Warten auf seinen Tod.
Wir mussten gegen Dad und seine Führungsriege etwas unternehmen.
Bald würden wir unsere Dreitagesreise über einen höllischen Ozean, einen himmlischen Fluss und die staubige, gewundene Straße in umgekehrter Richtung antreten. Ich sagte mir, dass meines Vaters Tage gezählt sein würden, wenn meine neuen Verbündeten und ich nach Jonestown zurückkehrten.
Als ich gerade anfange, unseren Ausbruch zu genießen, tritt durch den Vorhang, der den Vorführraum vor dem schwächlichen Flurlicht schützen soll, eine meinen Gefährten vertraute Figur. Eine Silhouette, die hier nicht willkommen ist. Ihre Bewegung ist falsch. Sie wirft ein Flüstern an die Vorderseite unserer Gruppe; es klettert in meine Richtung und benützt dabei jeden verfügbaren Halt. Wie in einem regellosen Stille-Post-Spiel bahnt die Nachricht sich ihren Weg nach oben, bis sie mich schließlich durch meinen Bruder Tim erreicht.
“Wir haben den Befehl erhalten, Rache zu nehmen.“
Ich starrte auf die Leinwand, als würde ich mir nach wie vor ansehen, wie ein schlechter John Saxon schlechte Texte sprach. Unter meiner äußeren Ruhe machte sich Panik breit. Mein Herzschlag wurde zu einem irrwitzigen Trommelwirbel. Zwar gab es keinen Plan, keine spezifischen Anweisungen, doch war mir klar, dass “Rache” “Tod” bedeutete. In Dads Kopfs hieß das: jeden umbringen, der ihn irgendwann verärgert hatte, ohne dafür Abbitte zu leisten, ein Morden, das bei den Besorgten Angehörigen im Pegasus Hotel beginnen und sich so weit fortsetzen sollte, wie der Pflichteifer der Soldaten eben reichte. Mir war klar, dass irgendetwas los sein musste, wenn uns ein Befehl so gewaltigen Ausmaßes erreichte – etwas Grauenhaftes, womöglich Irreversibles.
An diesem Punkt versagt mein Gedächtnis; durch die Angst hindurch, die von mir Besitz ergriffen hatte, nahm es kaum etwas auf. Ich weiß, dass ich die Situation auf dieselbe Weise zu “managen” begann, wie ich es schon oft getan hatte: Vortäuschen, der Anweisung Folge leisten zu wollen, ja ihr sogar zustimmen. Informationen sammeln und verarbeiten. Nach einer Schwachstelle im Plan suchen, die Positionen der anderen Mitspieler einschätzen, ganz allmählich Allianzen bilden und währenddessen den Fokus der Fanatiker und Mitläufer verschieben. Den Kurs manipulieren wie ein einsamer Meuterer, der sein Steuerruder gerade genug herumreißt, um den Bug am Horizont unmerklich abdriften zu lassen – und dabei das Lieblingslied des Kapitäns pfeift. Ich würde also mitspielen.
Dass ich an jenem Abend keine “Rache” nehmen würde, war mir klar. Ich würde meinem Vater bestimmt nicht dabei helfen, irgendjemanden umzubringen; ich würde ihn aufhalten. Um das zu tun, musste ich jedoch vorsichtig sein. In einer so explosiven Situation galt es, alles zu vermeiden, was die “Treuergebenen” irritieren könnte, alles, was die Psychose anfachen könnte, die Dad so geschickt am Leben hielt. Ich stellte mir vor, wie die Menschen in Jonestown sich zu einer weiteren Todesverhandlung vor Dad versammelten, doch diese hier war realer, und Dad stand vor dem Abgrund. Ich hatte entsetzliche Angst, etwas zu tun, das ihn über den Rand stoßen könnte – und dass er meine Lieben mit sich reißen würde.
Doch nicht bloß deshalb marschierte ich mit zur dissonanten Musik jener Sklaven, die sich Freiheitskämpfer nannten. Es stimmt zwar, dass ich mich nach Kräften bemühte zu führen, während ich – um diese in ihrem zweischneidigen Irrsinn gefangenen, konformistischen Revolutionäre zu begütigen – so tat, als würde ich dem Befehl folgen. Aber ich wählte diesen mir wohlvertrauten, indirekten Weg auch, um mein Image zu pflegen und zu schützen. Ich wollte nicht als Verräter oder – schlimmer noch – als Feigling dastehen. Ich würde die Situation manipulieren, und zwar genau so sehr, um mein Gesicht zu wahren wie um Leben zu retten.
Ich spürte, dass meine Teamkameraden meinten, ich sollte das Kommando übernehmen. Immerhin hatte ich in dieser Schlacht länger gekämpft als sie. Sollte ich nicht auch den Feind besser kennen?
Einen Dreck kannte ich ihn. Nie hätte ich gedacht, dass es so weit kommen würde, wie es gekommen war – dass ich je einen Befehl dieser Größenordnung zu vereiteln hätte – dass ich, statt zu versuchen, den Irrsinn zu steuern, Mord zu verhindern hätte. Ich hatte meinen Vater unterschätzt, und ich war völlig aus dem Gleichgewicht.
Zum Teufel, sie waren es, auf die ich zählte. Unsere gemeinsame Zeit in Georgetown, weg von Dads erdrückender Kontrolle und seinem Einfluss, hatte das Band unserer Rebellion so gestärkt, dass wir wussten, wir konnten wechselseitig darauf vertrauen, dass wir uns dem Irrsinn widersetzen würden. Wir krochen alle in unseren blauen Lieferwagen und kehrten zurück zum Temple-Hauptquartier in Georgetown.
Wir hatten das zweigeschossige Haus “Lamaha Gardens” getauft, nach der Lehmstraße, die zwischen ihm und einem neun Meter breiten Kanal verlief, der sich vom Ozean ins Zentrum der Stadt schlängelte. Wie viele Mittel- bis Oberklassehäuser der Karibik war es gebaut, um heftigen Regenfällen standzuhalten. Die Hauptwohnräume befanden sich im oberen Stock, oberhalb der Hochwassergefahr. Der offene Durchgang darunter war von der Garage und drei kleinen Räumen mit Betonböden gesäumt. Wie im Tempel üblich, wurde jeder Raum maximal ausgenützt. Die Garage war vollgepackt mit Lagergütern. Zwei der Wirtschaftsräume waren in Wohn- und Arbeitsbereiche umgewandelt worden, die von mehr als einer Person benützt wurden. Das dritte Zimmer, das am nächsten zum Eingangstor lag, war der Funkraum – die Kommandozentrale. Diese beherbergte einen der drei vom Temple betriebenen Kurzwellensender; die anderen beiden befanden sich in Jonestown und San Francisco. Jedwede Kommunikation wurde hier durchgeschleust.
Ich war neunzehn, völlig verängstigt und durcheinander. Ich versuchte, meinen eigenen Zusammenbruch gerade so weit in Schach zu halten, dass ich mir einen letzten Plan zur Untergrabung von “Vaters” Willen ausdenken konnte. Das Tageslicht war am Schwinden, als wir uns in der Einfahrt einen Moment lang zu einer Strategiebesprechung zusammendrängten, mit all ihren mentalen Fallen: Ernst und zielgerichtet bemühten wir uns nach Kräften, wie Soldaten auf einer Mission auszusehen. Ich war kaum in der Lage, zwei Gedanken aneinander zu reihen, geschweige denn, mir einen Plan auszudenken. Wir mussten die Lage auf das Allerelementarste herunterbrechen: Um herauszufinden, wo man in Jonestown den Hebel ansetzen konnte, galt es zunächst einmal, herauszufinden, was dort überhaupt vor sich ging.
Im Funkraum saß Sharon Amos mit Kopfhörern über einen Schreibtisch gebeugt. Ich ging davon aus, dass sie unsere Befehle aufsog, bin aber jetzt nicht mehr so sicher. Wahrscheinlicher ist, dass sie lauschte, dem Bösen lauschte, während sie versteinert da saß und darauf wartete, dass mein Vater ihren nächsten Gedanken bellte.
Als wir hereinkamen, drehte sie sich zu uns um. Mit unvermindertem Entsetzen hörten wir denselben Befehl wie zuvor nun wiederholt: “Er will, dass wir rausgehen und Rache nehmen.” In meinen Ohren hämmerte es, meine Lungen implodierten beinahe. Unter Verwendung jenes Codes, der in hunderten illegaler Funkübertragungen entwickelt worden war, begann der Funker in Jonestown die Waffen zu buchstabieren, die wir gemäß Dads Wunsch zu verwenden hatten. Als Sharon begann, “ M…E…S…S..” auszurufen, schnappte ich mir Tim und Johnny und zog sie nach draußen.
Ich hatte so soldatisch zu wirken versucht wie ein in Panik geratener Kind-Mann es vermag, abermals, um einerseits mein Image zu wahren und andererseits jene, die an der Kippe standen, zu beruhigen. Keine meiner besten schauspielerischen Leistungen, denn bald schon näherte sich uns Debbie, Mikes Frau und eine jener Personen, bei denen ich mir nicht sicher war. “Hört mal, ich weiß, was ihr Jungs da tut. Ich bin auf eurer Seite, aber so geht das nicht. Ihr treibt Sharon und Paula in den Irrsinn.”
Sharon und Paula: die Fanatikerin und die Mitläuferin. Abgesehen davon, dass ich dringend wissen wollte, was in Jonestown vor sich ging, und von den Tempelmitgliedern in den Staaten waren diese zwei meine größte Sorge. Weder wusste ich, welche Anweisungen sie hatten, noch, was sie daraus machen würden. Ich wusste, dass Sharon jedem Befehl ihres revolutionären Führers fieberhaft Folge leisten würde, und dass wir ihrerseits extreme Interpretationen zu erwarten hatten. Paula war beeinflussbarer, doch sie war auch Dads gelegentliche Geliebte, und ich wusste nicht, wann er zum letzten Mal Zugriff auf sie gehabt hatte.
Debbie hatte Recht. Wir waren nachlässig gewesen. Wir mussten die Dinge ordentlich angehen. Wir wollten nicht, dass Sharon und Paula durchdrehten und wir am Ende damit beschäftigt wären, auf sie einzureden oder, schlimmer noch, sie bändigen zu müssen.
Also gingen wir zurück in den Funkraum. Ich versuchte ruhig und zugleich energisch zu wirken. “Jetzt wartet mal einen Augenblick. Ohne eine Idee gehen wir da nicht raus. Wir brauchen einen Plan, sonst erreichen wir gar nichts. Was sollen wir denn überhaupt verwenden, Buttermesser?” Es klang nicht wie Planen, eher wie ein Flehen. Sodann, um jedweder Antwort zuvorzukommen, und in völligem Widerspruch zum gerade Gesagten, verkündete ich, dass Tim, Johnny und ich jetzt zum Pegasus-Hotel fahren würden, zu den Besorgten Angehörigen.
Ich bin nicht sicher, ob ich wollte, dass Sharon oder Paula – oder wer sonst noch unsere Tötungsbefehle in Erwägung ziehen mochte – dachten, wir würden dorthin fahren, um mit den Morden zu beginnen. Ich weiß, dass ich dachte, ich hätte Zeit, um Dad zu stoppen: dass das “Mordkommando” die Vorhut sei, nicht die Aufräumtruppe. Und ich wollte mich nicht verraten und Dads Irrsinn dadurch, dass seine auserwählte „Elite-Armee“ sich gegen ihn stellte, auch noch beschleunigen. Auch musste ich jenen Teil von mir verbergen, der seinen eigenen Arsch retten wollte, der Angst davor hatte, zu sterben. Mehr als alles andere funktionierte ich aus meinem Bedürfnis heraus, zu erfahren, was zur Hölle denn vor sich ging, oder besser gesagt: was in der Hölle vor sich ging.
Außerhalb von Sharons Hörweite zog ich Lee Ingram beiseite und wies ihn an, “die Staaten” anzurufen – so nannten wir den Temple in San Francisco – und den Leuten dort mitzuteilen, ich hätte gesagt, sie sollten nichts unternehmen, bis sie von mir hörten. Lee war als Coach des Basketballteams ein wichtiger Teil der von uns neuerdings gepflegten Unehrerbietigkeit, und er war ein friedfertiger Mann, ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte. Während wir direkt an der Tür miteinander sprachen, stand er still da, sein kantiges schwarzes Gesicht nah an meinem. Über seine linke Schulter hinweg konnte ich Sharon sehen, die sich nach wie vor fest an ihre einzige Verbindung zu “Vater“ presste, an die physische Manifestation seiner Kontrolle über sie. Ihr Haar war zerzaust, so, als hätten Dads unsichtbare Hände durch diese widerliche Maschine hindurch ihren Kopf gepackt, um ihren Mund hinunter ans Mikrophon zu ziehen. Bloß einen Moment lang ließ ich meinen Blick zu ihr wandern, und kehrte dann zurück zu Lee. Seine Augen waren die ganze Zeit über fest auf die meinen gerichtet. Mit wenigen Worten kamen wir überein, dass er Sharon nicht aus den Augen lassen dürfe. Sie war in Begriff, in jene verbissene Erregung abzugleiten, die den Treuergebenen vorbehalten war – und zwar tiefer, als ich es jemals gesehen hatte. Ihr Blick war leuchtend und misstrauisch, ihre spärlichen Bewegungen flink und effizient. Soweit es sie anging, hatten wir alles, was wir wissen mussten: Töten.
Ich hatte Paula mein Gespräch mit Lee absichtlich mit anhören lassen. Sie sah mich bloß an, und ihre gelassene Reaktion verriet mir, dass Dads Zauber endlich seine Kraft verlor. Vorsichtshalber stellte ich jedoch sicher, dass ihre enge Freundin Debbie ein Auge auf sie haben würde. Ich erinnere mich nicht, wie Debbie und ich das kommunizierten, weiß aber, dass wir die Notwendigkeit fast zeitgleich erkannten. Wir hatten lang genug unter einer narzisstischen Svengali gedient und gelitten, um einen sechsten Sinn für die menschliche Psyche zu entwickeln. Paula war instabil und angreifbar, doch unter Debbies Aufsicht würde auch sie sicher sein.
Die Fahrt zum Pegasus-Hotel war grauenhaft lang. Wir hatten uns für den kompakten Viertürer des Tempels entschieden, einen Wagentyp, den die meisten Guyaner fuhren, zum Manövrieren in den engen, chaotischen Straßen. Unsere Reisen an jenem Abend waren von bizarrer Qualität, eine Art zielgerichtetes Herumwandern. Mein Inneres zitterte, und eine taube Benommenheit hielt mich umfangen. Fast jeder, der mir etwas bedeutete, war die Geisel von jemandem, dessen einzige Bedingungen sich darum drehen würden, auf welche Weise zu sterben war, nicht zu leben. Konnte mein Vater seinen endgültigen Abgangsplan wirklich durchziehen? Er näherte sich ihm zweifellos schneller, als er es je getan hatte. Ich setzte alles, was ich noch hatte, auf einen Pfad, der in die falsche Richtung ging.
Meine Erinnerung an das Pegasus-Hotel ist nebelhaft. Drei türlose Eingänge führten direkt in eine große, geräumige Lobby. Sie war so konzipiert, dass sie die träge tropische Luft zum Spielen einlud, um jenen, die auf der Flucht vor ihrer drückenden Schwüle hergekommen waren, Kühlung und Erfrischung zu bringen. Nicht so an jenem Abend. Als ich eintrat, lasteten Wärme und Feuchtigkeit schwer auf den etwa zwanzig über den Raum verteilten Personen. Ebenso greifbar war ihre Anspannung. Es war, als hätte ich einen Flughafen betreten, auf dem ohne Angabe von Gründen alle Flüge Verspätung hatten. Alles war in einem nervösen, statischen Schwebezustand; sie würden auf unbegrenzte Zeit hiergeblieben sein, besorgt auf und ab laufend, bis irgendjemand, mit egal welcher Information, den Bann brechen konnte.
Ich sprach mit Bonnie, der Tochter von Reverend Burnham, einem Missionar, der sich mit Dad angefreundet hatte, als wir in Brasilien lebten. Bonnie hatte selbst Temple-Luft geschnuppert, allerdings nur kurz. Sie brachte ihre Besorgnis zum Ausdruck, anscheinend war ihr ebenso wenig wie den übrigen Besorgten Angehörigen bewusst, dass der Wahnsinn eskaliert war. Ich reagierte mechanisch und so herzlich, wie ich eben konnte, während ich über sie hinweg auf Tim Stoen blickte, jenen Mann, der zum Brennpunkt meines Besuchs und zum Brennpunkt von Jim Jones‘ Hass geworden war.
Tim saß auf einer Bank, die entlang einer Wand der Hotellobby verlief. Sein linkes Bein lag hochgezogen, in einem halben Lotussitz, auf der Bank. Er wirkte sanft und seriös wie immer, in seinem geschmackvoll ausgewählten Baumwollhemd und kurzen Hosen, als sei er genau derselbe Mann, den ich mehr als anderthalb Jahre zuvor zuletzt gesehen hatte, doch diesmal stand er gänzlich auf der anderen Seite. Könnte Dad all seine Enttäuschung, Verletztheit und Rage zu Füßen eines einzigen Mannes legen, so wäre es dieser hier. Tim war ein Vertrauter gewesen, ein Schlüsselstratege und Entscheidungsträger. Er hatte Loyalität geschworen, und er hatte Jim Jones seine Frau und sein Kind gegeben. Seit er abtrünnig geworden war, hatte Tim begonnen, all das wieder zurückzunehmen. Der Sorgerechtsstreit um das Kind war sozusagen das Schwert, das die Guyanischen Behörden über Dads Kopf hielten, der wahre Auslöser von Ryans Besuch, der Hauptgrund für unser aller Hiersein.
Wann immer jemand ihm Nahestehender sich gegen ihn stellte, wurde das großartige Bild, das Dad von sich selbst geschaffen hatte, massiv erschüttert. Seine einzige Art, damit umzugehen, war, aus solchen Personen böse Menschen zu machen. Warum sonst sollte jemand, der das Innere meines Vaters und seiner Bewegung kannte, sich davon abwenden? Auch würde jemand, der im Tempel Tims Rang innegehabt hatte, wissen, wo das Geld war und worauf die “Bewegung” zusteuerte. Tim bedrohte Dad auf mehreren Ebenen, die mehr eingebildet als real waren.
Seine Begrüßung ist mir als herzlich und vorsichtig in Erinnerung. Sein etwas zerzaustes, angegrautes schwarzes Haar und der Ein- oder Zweitagebart taten seinem gepflegten Erscheinungsbild keinerlei Abbruch. Ich frage mich seit damals, ob später, als ich beschuldigt wurde, der Kopf eines Temple-Mordkommandos zu sein und wegen Mordes ins Gefängnis geworfen wurde, er oder sonst jemand erwähnte, wie eng und ungefährlich unsere Begegnungen gewesen waren. Von unserem Gespräch weiß ich nicht mehr viel. Ich erinnere mich, dass ich ihn davor warnte, wohin seine fortgesetzten “Anschläge” auf meinen Vater führen konnten. Er wirkte geschockt, als ich ihm sagte, dass Dad jeden in Jonestown sterben lassen würde. Ich wiederum konnte nicht fassen, dass Jim Jones’ Vernichtungspotenzial ihm nicht schon vorher zu Bewusstsein gekommen war. So lange Zeit hindurch war er ein einflussreicher Teil des inneren Kreises gewesen, ein Stratege, ein Aufwiegler. Mir wird erst jetzt klar, dass er möglicherweise denselben Fehler gemacht hatte wie ich. Womöglich hatte Tim Dads Spielchen, seine großspurigen Zurschaustellungen, sein endloses Wolfsgeheul so oft gesehen und gehört, dass er dagegen immun geworden war. Er mochte gemeint haben, Jim Jones’ Feigheit würde ihn davor bewahren, zu weit zu gehen. Nur wenige Stunden zuvor hatte ich dasselbe gedacht.
Vom Pegasus-Hotel zogen wir weiter zur US-Botschaft. Ich war außer mir vor Angst, bemühte mich jedoch, Fassung zu bewahren, nach wie vor bedacht auf den äußeren Schein. Was für ein gründlicher Lehrer Dad doch gewesen ist. Auch war da die Angst, dass es zu meinem totalen Zusammenbruch führen würde, wenn auch nur eine einzige Saite in mir riss. Das konnte ich mir nicht leisten.
Ich vermutete, dass mein Vater sich verschanzt hatte. Vielleicht bewegte er sich sogar Richtung Selbstmord; jedoch, gemäß dem Muster seiner zahlreichen Probeläufe, dachte ich, dass er sich langsam darauf zu bewegen würde, auf der Suche nach einem Ausweg. Ich hegte die idiotische Hoffnung, dass auch dieser Zwischenfall, wie alle bisherigen, im Sand verlaufen würde. Erst Wochen später sollte ich erfahren, dass der Wahnsinn eine Geschwindigkeit erreicht hatte, die ich niemals für möglich gehalten hätte – dass zum Zeitpunkt, als ich das Hotel verließ, meine Welt, meine Leute, sie alle, die ich liebte, ohne es zu wissen, wahrscheinlich schon tot waren.
Die US-Botschaft war ein zweigeschossiges, modernes weißes Gebäude, das von gepflegter tropischer Flora umgeben war. Das hellerleuchtete Erdgeschoss war das einzige Anzeichen von Leben. Wir gingen über die kameraüberwachte, Rondell-artige Zufahrt geradewegs zur Vorderseite. Alle Eingänge waren versperrt. Wir klopften an die Vordertür, und jemand, der sich kaum einen Meter innerhalb des Gebäudes befand, bat uns zu sagen, wer wir waren. Das taten wir, worauf eine andere Stimme, die tiefer aus dem Gebäude drang, es übernahm, uns den Zutritt zu verweigern. Ich fragte, warum, und die Stimme teilte uns mit, gemäß unbestätigter Berichte sei auf der Port Kaituma-Flugbahn auf den Kongressabgeordneten Ryan und “andere” geschossen worden, vermutlich von Temple-Mitgliedern. Mein Inneres schrie auf, mein Herz donnerte gegen meinen Brustkorb. Ich hörte die Worte “Ich weiß” durch die drückende Nachtluft brechen.
Es waren meine eigenen Worte. Ich wusste es tatsächlich. Ich hatte kein bestimmtes Wissen darüber, was an jenem Abend in Jonestown vor sich ging, aber tief in mir drinnen, unterhalb all meines Leugnens und meiner Selbsttäuschung, wusste ich, dass Jim Jones’ Schlimmstes über uns hereingebrochen war.
Sofort versuchte ich zu erklären, was ich gesagt hatte, den Leuten mitzuteilen, wir wüssten, dass irgendetwas im Gange sei, und dass wir dagegen seien; dass wir gekommen waren, um uns ihre Hilfe zu holen, nicht ihr Leben. Es war mir wichtig, sie und auch sonst alle „außerhalb“ wissen zu lassen, dass ich nicht Teil dieses Wahnsinns war – auch wenn ich es in gewisser Weise war. Bevor ich aber noch mehr dummes Zeug reden konnte, zog mein Bruder Tim mich beiseite und sagte, ich sollte aufpassen, was ich sage. Er brachte uns zurück zu Lamaha Gardens, wo unsere kopflose Ermittlung ihren Anfang genommen hatte.
Als wir eine halbe Meile vom Haus entfernt waren, bat ich Mike, uns aussteigen zu lassen, damit wir den restlichen Weg zu Fuß gehen und unbemerkt die Lage abschätzen konnten, um so zu vermeiden, dass wir von den Behörden festgenommen würden, bevor wir bereit waren. Ich erinnere mich, dass ich, während wir durch normal aussehende Straßen liefen – die Hölle ist in dieser Hinsicht trügerisch – gen Himmel schaute und wen auch immer anflehte, es möge alles gut sein. Ein Flugzeug flog über uns hinweg, und ich hoffte laut, dass Ryan an Bord sei.
Wir standen in der Finsternis und beobachteten eine kurze Zeit lang das Haus. Wir sahen nichts Beunruhigendes, keine fremden Fahrzeuge. Der Wagen, den wir bei unserer fruchtlosen Mission verwendet hatten, war wieder an derselben Stelle geparkt wie zuvor. Also gingen wir rein. Wir waren etwa zehn Meter vom Tor entfernt, als Robin, mit einer kleinen Gruppe im Schlepptau, uns entgegen eilte. “Sharon hat sich und ihre Kinder umgebracht.”
“Wo war Lee?” Ich bekam keine Antwort. Später sollte ich erfahren, dass die Polizei in Georgetown Berichte über eine Schießerei im Peoples Temple erhalten hatte und direkt zu Lamaha Gardens gefahren war. Denn das war der “Peoples Temple”, der unter ihre Gerichtsbarkeit fiel, nicht jener in Jonestown. Lee ließ Sharon unbeaufsichtigt, während er zur Vordertür ging, um die Polizisten zu empfangen. Sharon, in ihrer Angst, dass die Massenverhaftungen begonnen hätten, rannte los, um ihre Kinder vor jenem “Leben im Faschismus“ zu retten, vor dem mein Vater stets gewarnt hatte.
Ich war nicht fähig zu erfassen, was ich gerade gehört hatte. Das kann nicht sein. Ich dachte, ich hätte hier alles geregelt. Dad ist die einzige Bedrohung. Mamis töten ihre Babys nicht. Alles in mir stöhnte. Verzweiflung und Schwerkraft zerrten an meinem Inneren, zogen mich abwärts in den Kern genau jener Sache, die rings um mich alles aus den Fugen geraten ließ.
“Wo sind sie?” brachte ich hervor. Robin sagte nichts; sie drehte sich bloß um und begann, Richtung Haus zu gehen. Ich ging hinter ihr her, froh darüber, geführt zu werden, und in grauenhafter Angst vor dem Ziel. Während sie uns die Außentreppe hinauf zu den gläsernen Schiebetüren geleitete, die als Vordereingang dienten, rettete mich ein Zustand der Benommenheit. Als wir den Hartholzboden des großen Wohnzimmers querten, war mein Bewusstsein das eines Maultiers, das zu lange vor einen stumpfen Pflug gespannt worden war.
Wir gingen weiter den einzigen Gang entlang. Er verband sämtliche Räume im oberen Geschoss. Am äußersten Ende stand die Tür zum Hauptschlafzimmer offen. Gleich dahinter, auf der rechten Seite, war das große Badezimmer. Hier blieb Robin stehen und riss mich aus meiner Benommenheit. Sie deutete auf die geschlossene Tür. Ich zauderte, und tat dann einen Schritt nach vorn.
Als ich nach dem Türknauf griff, konnte ich sehen, dass unterhalb der Tür Blut hervorsickerte. ES PASSIERTT! ES IST WIRKLICH! ES IST WIRKLICH! Alles verlangsamt sich; mein Blickfeld verengt sich. Ich sehe meine Hand, als sei sie die eines anderen, den Knauf fassen und drehen. Arme, die nicht länger mir gehören, drücken gegen die Tür. Sie bewegt sich etwa vierzig Zentimeter weit und stoppt sodann. Ein blindwütiger Impuls wirft meine Schulter gegen die Tür. Als ich in den Raum stürzen will, wie ein Bulldozer, dessen Lenker sich mit einem Sprung in Sicherheit gebracht hat, dockt am linken Rand meines verengten Gesichtsfelds ein winziger weißer Blitz an mein schwindendes Bewusstsein an und hievt es zurück in die Gänge. Ich erstarre. Mein Blick weitet sich. Als ich die Umgebung in mich aufnehme, wird mir klar, dass dieses Stück reines, strahlendes Weiß ein Auge ist.
Dieses Gesicht. Der kleine Martin starrt an die Decke, mit geöffneten Lippen und einem ungläubigen, geschockten Ausdruck. Und unter diesem entgeisterten Gesicht der tiefe Schnitt, aus dem sein Leben geflossen ist.
Ich musste seinen kleinen Körper mit der Tür beiseiteschieben; der Gedanke, ihn anzufassen, war unerträglich. Neben ihm lag seine Schwester Christa. Sie war elf, ein knappes Jahr älter als ihr Bruder. Alles an ihr schien mit Martin identisch, nur größer. Ihr Ausdruck, ihre Wunde, sogar die Art, wie sie da lag; so, als habe etwas, das sich an der Decke befand, sie in ehrfürchtigen Schrecken versetzt. Etwas, das für die Lebenden nicht sichtbar war. Über die Arme und Beine der beiden weiß ich nichts zu sagen. Ihre Ähnlichkeit von ihren geschlitzten Hälsen aufwärts bis zu ihrem lockigen, blutgetränkten Haar beherrschte so sehr meine Wahrnehmung, dass ich mich an wenig sonst erinnern kann. Nur…dass sie auf grausige Weise aufgebahrt wirkten, so, als hätte jemand sie sorgfältig drapiert, jedoch ohne ein Bemühen, sie präsentabel zu machen, sondern so, dass man sich ihrer eher als Tote denn als Lebende erinnern würde. Vielleicht sahen ihre Köpfe für mich deshalb so identisch aus, weil ich nie zuvor Vergleichbares gesehen hatte.
Ich drückte die Tür tiefer in den Raum hinein. Martins Körper, nass von seinen eigenen Flüssigkeiten, drehte sich widerstrebend um die eigene Achse. Über dem gerinnenden See aus Blut ließ die Tür sich nur widerstrebend bewegen, so, als sei sie ebenso abgeneigt wie ich zu entdecken, was sonst noch in diesem Raum lag. Irgendein Widerstand brachte sie zum Stillstand. Vor mir sah ich Lianne, die Spielgefährtin meiner Kindheit.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten. Ihre Füße zeigten Richtung Tür, die Arme hatte sie unterhalb ihrer Brust. Sie lag neben der Dusche, einem verfliesten Gebilde direkt gegenüber der Tür, das vom übrigen Raum durch eine anderthalb Meter hohe Wand getrennt war. Der weiße Boden bildete einen schroffen Kontrast zu der dunkler werdenden Flut, die ihn umgab. Lianne bewegte sich. Sie gab einen erstickten Laut von sich und begann, mit nach wie vor an der Brust verschränkten Armen, die Schultern zu heben und zog dabei den Kopf mit nach oben. Etwa fünfzehn Zentimeter richtete sie sich auf, bevor ihre Kraft versagte und ihr Kopf und Oberkörper mit einem kräftigen Platschen nach unten fielen, einem Geräusch, wie wenn ein Kind in eine Schlammpfütze springt. “Lianne?” Es kam keine Antwort, bloß ein langsames, unnatürliches Seufzen, als sie starb.
Sharon habe ich nicht gesehen. Es war ihr Körper gewesen, der die Tür daran gehindert hatte, sich zu öffnen. Mehr als für einen Türstopper hatte ich in jenem Moment auch nicht für sie übrig.
Ich habe nie einen Fuß in dieses Badezimmer gesetzt. Ich konnte nicht. Vermutlich wäre tatsächlich jeder Versuch, dieses Grauen zu stoppen, dem Versuch gleichgekommen, ein überflutetes Boot festzuhalten, während es unter einem versinkt. Doch es gab einen weiteren Grund, warum ich nicht versucht hatte, Lianne zu retten. Ich hatte Angst vor Beschuldigung. Und wenngleich ich mich dafür unendlich schäme, war es angesichts der Strafverfolgung, der ich später ausgesetzt sein würde, eine recht realistische Angst. Man stelle sich vor, die Guyanischen Behörden treffen auf Jim Jones’ blutverschmierten Sohn sowie auf Opfer, die mit dessen Fingerabdrücken übersät sind. Einen feinen Sündenbock hätte ich abgegeben.
Ich stand draußen vor der Tür, und meine Arme hingen nutzlos an mir herunter. Einige Sekunden lang, die sich wie Minuten anfühlten, torkelte ich dort herum. “Hat irgendjemand die verdammte Polizei gerufen?” Jemand trat vor und teilte mir mit, dass die erste Person am Tatort einen blutdurchtränkten Chuck Beikman vorgefunden habe, der mitten unter den Toten stand. Chuck war ein einfacher Mann, manche würden ihn vielleicht einfältig nennen. “Leibeigener” beschreibt sein Verhältnis zu meinem Vater wohl am besten. Er reagierte auf Autorität, insbesondere auf akzeptierte Autorität, wie ein Blatt auf den Fluss reagiert, in dem es dahintreibt, ohne den Willen oder die Kraft, sich zu widersetzen. Niemand wusste, bis zu welchem Ausmaß er in das Gemetzel involviert war. Damals war mir das egal. Ich sah ihn als Opfer der Umstände, überwältigt von Sharons Fanatismus. Eins war gewiss: Die Mörderin lag tot auf dem Badezimmerboden.
Chuck war einer von uns. Er musste beschützt werden. Wir kamen überein, dass er im unteren Stockwerk bleiben sollte, weg von der Polizei. Etwa zu jenem Zeitpunkt erfuhr ich, dass Stephanie Jones, meine neunjährige adoptierte Nichte, verletzt worden war. Sie war das einzige weitere Kind im Haus. Ein Mitglied des Basketballteams hatte sie auf dem Badezimmerboden gefunden, mit Blut bedeckt, das zum Teil ihr eigenes war.
Als ich sie im unteren Stockwerk fand, waren zwei Frauen bei ihr. Ihr kleiner Hals wies an der Vorderseite drei Schnitte auf. Jeder davon war etwa drei Millimeter tief und zwischen fünf und zehn Zentimeter lang. Verglichen mit dem, was ich gerade gesehen hatte, wirkten die Wunden planlos und kraftlos ausgeführt. Ich dachte, das sei vielleicht ein Beweis von Chucks kopflosem und halbherzigem Versuch, Sharons Befehle während ihrer wahnwitzigen „Flucht“ auszuführen.
Der wirkliche Schaden für Stephanie ging tiefer als bloß in die Haut an ihrer Kehle. Sie wirkte so ruhig, wie sie da zwischen ihren beiden Betreuerinnen saß. An die Frau zu ihrer Linken gelehnt, den Kopf an ihre Brust gekuschelt, starrte sie geradeaus, wie versunken. Im verzweifelten Versuch, dieses junge Bewusstsein in bewohnbarem Zustand zu halten, musste ihr kindlicher Geist sich wie verrückt an den Hausputz gemacht und brandneue Dämonen rasch unter Fußmatten gekehrt und in Wandschränke gestopft haben. Aber sie wirkte so ruhig.
Ich berührte sanft ihr Gesicht; sie rührte sich nicht, sie blinzelte nicht. Die Frau, in deren Arm sie gebettet war, schaute zu mir auf und flüsterte, “Sie ist okay.”
Natürlich wusste ich, dass dem nicht so war. Stephanie würde nicht mehr dieselbe sein. Doch obwohl ihre Augen genauso leer waren wie die von Martin und Christa, leuchtete aus ihnen Leben. Und trotz Stephanies Trauma konnte ich, taumelig vor Angst, verzweifelt um das Schicksal derer in Jonestown bangend, panisch vor der Ankunft der Guyanischen Behörden und am Rande eines Schocks, nichts anderes empfinden als einen Funken der Erleichterung.
Dann kamen die Männer mit den Waffen. Die GDF – Guyana Defense Force – schirmte das Haus ab und versperrte beide Enden der einzigen Zufahrtsstraße. Zugleich mit ihnen kam die Polizei von Georgetown, und bald wimmelte es im ganzen Haus von ihnen.
Meine Erinnerung an den Rest dieser Nacht ist weitgehend Kaleidoskop-artig: Bilder von diensteifrigen Polizisten blitzen auf; ein beleibter Soldat sucht großspurig nach Beweisen, indem er die Balken eines der unteren Räume entlang klettert, Temple-Mitglieder drängen sich im Erdgeschoß zusammen, in Geiselhaft genommen und bewacht von Soldaten; Gesichter tauchen auf und schwinden, mein Bewusstsein tut dasselbe. Alles scheint im Schatten zu liegen, mit Ausnahme des hellerleuchteten Durchgangs, in dem wir uns versammelten und stumpfsinnig unser Schicksal erwarteten.
Ich weiß, dass ich verhört wurde; ich erinnere mich jedoch weder an die Fragen noch an meine Antworten. Ich weiß, dass ich Chuck nicht erwähnte. Ich sagte den Polizisten, ich wolle jeden, den sie auf die Polizeistation brachten, begleiten; dem wurde stattgegeben. Ich musste Chuck ein Alibi geben und achtgeben auf jene, für die ich mich immer noch verantwortlich fühlte. Tim, Johnny und ich baten darum, nach Jonestown gebracht zu werden. Ich war überzeugt, dass es Hoffnung gab – Leben, die zu retten waren, Entflohene, die ein vertrautes Gesicht brauchen würden. Die Polizisten sagten mir jedoch, alles, was getan werden konnte, werde bereits getan.
Ich gab mir alle Mühe, die Polizisten zu überzeugen, dass sie mit Überlebenden – oder Widerständischen – nicht so gut argumentieren könnten wie meine Brüder und ich. Ich sagte ihnen, dass ich den Busch gut kannte, dass ich helfen könnte, Menschen zu finden, die sich möglicherweise dort versteckt hielten. Doch das waren nicht die wahren Gründe, warum ich dort hin wollte so rasch wie irgendjemand mich hin bringen würde. In Wahrheit hatte ich das Gefühl, ich sei womöglich die letzte Person, die Dad zur Vernunft bringen konnte.
Der wahre Grund, warum ich zurück wollte an jenen grauenhaften Ort, den ich Zuhause nannte, war, dass ich zu meinen Leuten musste, ihnen nahe sein. Dass mehr als bloß die vier im ersten Stock tot waren oder gerade starben, war mir klar; es war jedoch völlig unmöglich, dass sie alle sterben würden. Ich konnte – wollte – das nicht glauben. Vielleicht waren sie in einer Art Pattsituation. Dad mochte nach wie vor Spielchen spielen, selbst wenn die Dinge ihm entglitten waren. Ich dachte an hunderte Überlebende, die sich im Busch versteckt hielten, in Furcht vor sowohl Dad und seinen Gefolgsleuten, als auch vor den “äußeren” Mächten, vor denen er uns tausende Male gewarnt hatte. Mir schwindelte angesichts all der finsteren Möglichkeiten, die durch meinen Kopf rasten.
Alles, was getan werden kann, wird bereits getan. Damals verstand ich nicht, dass damit gemeint sein konnte, es sei nichts mehr zu machen, es sei niemand mehr da, der gerettet werden könnte. Ob man zu jenem Zeitpunkt bereits wusste, dass alles verloren war, weiß ich bis heute nicht. Ich glaube, sie dachten bloß, sie wüssten, was zu tun sei, und wie es am besten zu tun sei. Ich wollte sie anbrüllen, wollte ihnen klarmachen, welches Ausmaß das Morden erreichen konnte, fürchtete mich aber davor, zu verraten, dass mir der Grad des möglichen Wahnsinns bewusst war.
Ein paar von uns suchten Zuflucht in einem der unteren Räume, direkt unterhalb des Badezimmers. Wir waren benommen und ausgelaugt. Ich mahnte unsere kleine Gruppe, nichts Dummes zu tun. Wie mit dem Anruf an die Mitglieder in den Staaten, um den ich Lee, bevor ich ihn mit Sharon allein ließ, gebeten hatte, versuchte ich, meinem Vater in den Arm zu fallen, die Reichweite seines mörderischen Tuns zu blockieren. Meine letzten Worte in dieser Nacht waren: “Sprecht mit jemandem, wenn alles zu viel wird.” Wenig später zwang die Erschöpfung mich zum Hinlegen, im dringenden Bedürfnis nach der Gnade eines kurzen Vergessens.
Ich weiß sonst fast nichts mehr von jenem Abend in Lamaha Gardens. Ich habe nie erfahren, was sonst jemand sah oder dachte. Ich weiß, dass außerhalb unserer selbstgemachten Zelle die Hausdurchsuchung weiterging. Ich weiß nicht, was sie fanden. Noch weiß ich, was sie mit den Leichen Sharons und ihrer Kinder machten. Was ich weiß, ist, dass es Stunden dauerte, bis sie das Badezimmer säuberten, denn als ich, während ich das Bewusstsein verlor, nach oben schaute, sah ich Blut von der Decke tropfen.