Erinnerungen an meine Schwester

[Die englische Originalversion dieses Texts finden Sie hier.] 

Melanie Wanda Hector war eines von acht Kindern, die Lena und Edward Hector geboren wurden. Als Kind war Melanie scheu und sorglos. Sie las gerne, liebte alte Westernfilme und Musik. Wir nannten sie liebevoll “Old Lady Sucky,”[1] weil ihr ruhiges und zurückhaltendes Wesen wie die Seele von jemandem war, der schon viele, viele Jahre gelebt hatte.

Eine meiner liebsten Erinnerungen an meine Schwester ist, wie wir als junge Mädchen gemeinsam eine Fahrradtour unternahmen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich freute, dass meine große Schwester sich Zeit genommen hatte, um sie mit mir zu verbringen, und dass jener Tag geradezu perfekt war zum Fahrradfahren.

Unsere Familie wuchs in Südkalifornien auf. Melanie absolvierte die Washington High School in Los Angeles, wo sie Mitglied des Drum and Bugle Corps[2] gewesen war.

Melanie wurde christlich erzogen. Als sie ihren Mann Michael Simon kennenlernte, trat sie jedoch seiner Kirche bei, dem Peoples Temple. Michael und seine Familie waren bereits sehr engagiert in der Kirche, und Michaels Mutter Pauline und sein Bruder Anthony arbeiteten sogar dort.

Michael und Melanie waren Mitglieder des Peoples Temple in Los Angeles, aber nach der Geburt ihrer Tochter Aisha zog die dreiköpfige Familie nach San Francisco. Sie schenkten all ihre Besitztümer der Kirche und lebten in einem Ein-Zimmer-Appartement. Michael arbeitete nach wie vor für die Kirche, während Melanie zuhause blieb und sich um ihrer beider Tochter kümmerte. Als Michaels Mutter und Bruder sich entschieden, nach Guyana zu gehen, kam Michael mit, und Melanie folgte ihrem Mann.

Melanie war immer ein bisschen übergewichtig. Als sie ein Foto von sich aus Guyana schickte, sahen wir, dass sie mindestens hundert Pfund verloren hatte. Wir erkannten sie kaum wieder.

Melanie und ihre beiden Töchter Aisha und Zateese starben in Jonestown. Michael überlebte das Gemetzel in Jonestown, weil er zufällig gerade in Georgetown beim Zahnarzt war, als das Sterben stattfand. Er kehrte in die USA zurück und kontaktierte uns einmal. Wir haben dreißig Jahre lang nichts mehr von ihm gehört. Ich würde ihn gern finden und bitte alle, die das hier lesen und ihn kennen, ihn zu fragen, ob er nicht Kontakt mit uns aufnehmen möchte.

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Meine Schwester Melanie hatte ein großes Herz; sie kümmerte sich gern um andere, pflegte andere gerne, was den Wunsch in ihr erweckte, im Pflegebereich zu arbeiten. Sie war ein bodenständiger Mensch und eine hingebungsvolle Mutter. Von ihren fünf Schwestern und zwei Brüdern wurde sie sehr geliebt.

Als ihre erste Tochter Aisha geboren war, entdeckte ich eine Seite an ihr, die ich nie zuvor gesehen hatte. Mutter zu werden brachte wirklich das Beste in ihr hervor.  Sie liebte ihre Tochter mehr als das Leben selbst, und ich weiß, dass diese Liebe sich auch auf ihre zweite Tochter ersteckte.

Liebe Melanie, wir werden dich nie vergessen.

Geschrieben in Liebe.

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[1] An anderer Stelle erzählt Jacinta Powers von einem Brief, den Melanie ihrer Mutter aus Jonestown geschickt hatte. Da die Briefe zensiert wurden, konnten persönliche Mitteilungen nur begrenzt getätigt werden, idealerweise so, dass den Zensoren ihr Sinn verborgen blieb. Melanie verwendete dazu den Spitznamen, den man ihr als Kind gegeben hatte: „Old Lady Sucky“ wolle nach Hause, schrieb sie. Anm. d. Ü.

[2]  Musikgruppe, die aus Blechbläsern, Schlag- und Effektinstrumenten und einer Showtanzgruppe besteht. Für Paraden und Wettkämpfe werden Shows einstudiert, die aus Musik und Choreographie bestehen. Anm. d. Ü.